Angela Merkel weiß, was gutes Leben ist
26. Oktober 2016Was macht gutes Leben in Deutschland aus? Nach jahrelangem Dialog mit Bürgern und Wissenschaftlern hat die Bundesregierung 46 Anzeichen (Indikatoren) als Antwort auf die Frage gefunden. Die Anzeichen werden zwölf Ansprüchen an das Leben zugeordnet. Vieles ähnelt bekannten Politikfeldern oder gibt Dinge wieder, die sowieso schon "gemessen" werden. Wie zum Beispiel der Anspruch "Gut arbeiten und gerecht teilhaben" mit seinen Indikatoren "Arbeitslosenquote" und "reale Nettolöhne".
Aber es gibt auch neuere Aspekte wie den Anspruch "Zeit haben für Familie und Beruf". Hier entscheidet zum Beispiel die Pendeldauer zwischen Wohn- und Arbeitsort. Als neue Ansprüche wurden außerdem formuliert: "Zuhause sein in Stadt und Land", "Frei und gleichberechtigt leben" sowie "In globaler Verantwortung handeln und Frieden sichern".
Ansprüche und Anzeichen (Indikatoren) für ein gutes Leben brachte die Bundesregierung in keine besondere Rangfolge und enthält sich so einer Bewertung.
Wohlstandsbericht ist interaktiv
Zu allen Punkten für ein gutes Leben gibt es auf der Website "gut-leben-in-Deutschland.de" einen interaktiven Bericht mit vielen Grafiken und statistischen Informationen. Hier kann man zum Beispiel nachlesen, wie sich die Lebenserwartung in seinem Landkreis entwickelt hat oder wie hoch das eigene Einkommen im Vergleich mit anderen liegt. Zwischendrin stehen Textboxen mit einer Einordnung unter dem Titel: "Was tut die Bundesregierung?" Wer immer nur über die Politik meckert, bekommt hier sozusagen als Gegenargument viele Zahlen geliefert, was alles schon getan wurde und wie sich Deutschland in den letzten Jahren entwickelt hat.
Die Autoren haben auch die am häufigsten genannten Aspekte in den Bürgerdialogen untersucht. Danach war Frieden das wichtigste Thema überhaupt. Gefolgt von "Höhe der Bezahlung", "Gefühl von Sicherheit" und "Persönliche Freiheit und Entfaltungsfreiheit".
Keine Idee der Bundesregierung
International wird seit Jahren mit der Messung von Wohlstand experimentiert. Das geht über die Ermittlung von wirtschaftlichen Wachstumsraten hinaus. Es gilt das Motto: Nicht mehr nur ein "mehr" von etwas entscheidet, es muss auch "besser" sein.
Nach der Finanzkrise 2008 arbeitete eine internationale Kommission unter Leitung des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz an einem neuen Berichts- und Indikatorensystem. Die OECD entwickelte daraus einen "Index für ein besseres Leben". In Großbritannien begann eine "Messung des nationalen Wohlergehens". In Deutschland beschäftigte sich der Bundestag in einer Enquete-Kommission mit der Thematik. 2011 startete die Bundeskanzlerin einen wissenschaftlich begleiteten Zukunftsdialog mit Bürgern.
Nach der Bundestagswahl 2013 schließlich wurde im Koalitionsvertrag festgehalten, dass im Dialog mit den Bürgern ein "Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität" entwickelt werden soll.
Beim Startschuss im April 2015 betonte Merkel, dass sie zu selten erfahre, was den Menschen wirklich unter den Nägeln brenne. Weil abseits vom Berliner Regierungsviertel manche Dinge doch anders gesehen würden. Die ersten Pegida-Demonstrationen mit "besorgten Bürgern", die sich abseits der Politik fühlen, hatten zu diesem Zeitpunkt schon für Schlagzeilen gesorgt.
Großer Aufwand - mit welcher Wirkung?
Im Jahr 2015 fanden 203 Bürgerdialoge bundesweit statt, bei 50 von ihnen waren auch Mitglieder der Bundesregierung dabei. Danach konnte online oder per Postkarte weiterdiskutiert werden. 15.750 Bürger beteiligten sich schließlich daran. Alles wurde anschließend wissenschaftlich ausgewertet. Dass das Ergebnis nicht repräsentativ sein könne, steht auch im Bericht. Aber das Ergebnis sei "vielfältig, konkret und aussagekräftig".
Trotz dieses großen Aufwands fand in Berlin für die Präsentation des Berichts kein eigener Pressetermin statt. Der Bericht wurde nur in der Kabinettssitzung beschlossen und darüber in der Bundespressekonferenz berichtet. Ein einzelner Pressetermin könne dem facettenreichen Bericht nicht gerecht werden, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz zur Begründung. Das Beste sei, man würde den "Bericht auf sich wirken lassen".
Zuvor waren die anwesenden Sprecher der Ministerien danach gefragt worden, ob sie konkrete Maßnahmen nennen könnten, die sich bereits aus der Arbeit am Bericht ergeben hätten. Eine Antwort gab es nicht, niemand wollte etwas dazu sagen. Auch auf die Nachfrage, ob der 2011/12 stattgefundene Zukunftsdialog zu konkreten Maßnahmen geführt hätte, gab es keine konkrete Antwort.
Der Bericht sei als Auftakt und als ein Kompass zu verstehen, sagte Seibert, wobei nun jedes Ressort schauen müsse, was in seine jeweilige Zuständigkeit falle. Der Bericht soll eine erste Bestandsaufnahme der Lebensqualität in Deutschland bieten, heißt es in den Unterlagen. Auf Grundlage des Berichts solle politischer Handlungsbedarf identifiziert und Maßnahmen entwickelt werden. "Dies ist Aufgabe der nächsten Jahre", heißt es weiter. Geplant ist, in jeder Legislaturperiode, also alle vier Jahre, einen solchen Bericht zu verfassen. Dabei soll die Methode der Erhebung ständig weiterentwickelt werden.
Futter für den Bundestagswahlkampf?
Die ersten Reaktionen lassen erkennen, dass der Bericht auch für grundsätzliche politische Diskussionen instrumentalisiert werden könnte. Wohlstand für alle dürfe kein leeres Versprechen sein, sagte der Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende, Sigmar Gabriel, in Berlin. Die Menschen wollten ein gerechtes Land. Dazu gehörten Chancengleichheit, Zusammenhalt sowie die Gleichstellung von Frauen. Die Schere zwischen Arm und Reich beim Einkommen sollte geschlossen werden. Bildung und Gesundheitsversorgung gehörten zu den wichtigsten Forderungen aus dem Dialog. Insgesamt spiegele der Bericht eine vergleichsweise positive Lage Deutschlands wider.
Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) nannte den Bericht "eine Lehre aus den Krisen des Neoliberalismus, der zur sozialen Spaltung führt". Sozialer Zusammenhalt sei "zentral für eine gute Gesellschaft und damit auch für die Lebensqualität der Bürger".
Man dürfe nicht ignorieren, dass die Sorgen der Bevölkerung bezogen auf Konflikte in der Welt größer geworden seien, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in Reaktion auf den Bericht. Die Menschen würden mit ihrer Sorge verbinden, so Steinmeier, dass Deutschland seine Möglichkeiten und seinen Einfluss nutze, um die Konflikte zu beruhigen. Dass Deutschland also eine aktive Rolle in der Außenpolitik übernehme und sich nicht wegducke.
Kritik kam von der grünen Bundestagsabgeordneten Renate Künast. Die Bundesregierung müsse jetzt auch mal vorlegen, was sie aus diesen Forderungen und Erkenntnissen für Schlussfolgerungen ziehe, so Künast. Ganz generell müsse die Form des Bürgerdialogs überwunden werden, zugunsten von mehr Transparenz und mehr Gespräch bei politischen Entscheidungen.
Angela Merkel hatte in ihrem wöchentlichen Videopodcast betont, die Bundesregierung habe ein Stück "Neuland" beschritten. Sie habe sehr gute Erfahrungen mit diesem Format gemacht und sich gefreut, überall auf engagierte Menschen zu treffen. Insgesamt seien den Menschen Frieden, Sicherheit, aber auch Fragen der Teilhabe und Gerechtigkeit besonders wichtig.
Der Linken-Politiker Dietmar Bartsch sagte, der in dem Bericht zum Ausdruck kommende ausgeprägte Wunsch der Menschen nach Frieden stehe im deutlichen Widerspruch gegen die exorbitanten Rüstungsexporte. Auch bei der Existenzsicherung durch angemessene Löhne stehe die Regierung in der Verantwortung.
FDP-Generalsekretärin Nicola Beer kritisierte den Regierungsbericht als "banal". Er diene dem schwarz-roten Regierungsbündnis "rechtzeitig zum Bundestagswahlkampf die endgültige Legitimation zum sozialistischen Verteilungsmarathon erhalten zu haben".