Merkels Buch "Freiheit": Über Putin, Trump und DDR-Kindheit
27. November 2024Als Angela Merkel erzählt, wird Zeitgeschichte sehr lebendig. "Da saß ich da im Kabinett. Das habe ich früher in der Tagesschau geguckt." Am 9. November 1989 fiel die Mauer, da endeten 28 Jahre deutscher Teilung. Gut 14 Monate später zog die Ostdeutsche Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend ins Kabinett von Kanzler Helmut Kohl. Und so vieles war fremd.
Bei der Buchvorstellung in Berlin im Deutschen Theater spricht die nun 70-Jährige von der "Unbekümmertheit" des Aufwachsens in der DDR, einem Land, "da ging so vieles gegen den gesunden Menschenverstand". Sie erzählt, gelegentlich humorig und oft entspannt, von ihrem Interesse an Politik im kommunistischen Land. Und Merkel verteidigt dieses alltägliche Leben. "Dieser Staat ist nicht das ganze Leben. Das Leben ist mehr, Gottseidank. Glückliche Kinder." Ihr Dank an die Eltern.
Die Ostdeutsche Angela Merkel war 16 Jahre Bundeskanzlerin, von 2005 bis 2021. In dieser Woche sind ihre Erinnerungen, gemeinsam verfasst mit ihrer langjährigen Mitarbeiterin Beate Baumann, erschienen unter dem Titel "Freiheit". Eine Schwarte, 736 Seiten. In Deutschland das politische Buch des Jahres. Und vielleicht nicht nur in Deutschland. Mit diversen Übersetzungen erscheint es derzeit in über 30 Ländern. Von China bis zu den USA.
"Ernste Situation"
Beim Thema Ukraine wird Merkel im Gespräch mit der Moderatorin Anne Will (noch) pointierter als im Buch. Jetzt gebe es "eine ungewohnt ernste Situation, wie ich sie trotz aller Krisen in meiner Amtszeit nicht hatte". Nach ihrer Überzeugung sei ein militärischer Sieg Russlands über den Nachbarn "überhaupt nicht möglich", das sei eine "Fehleinschätzung" von Wladimir Putin, der seine Kräfte "vollkommen überschätzt" habe. Und die Alt-Kanzlerin spricht fast mit Bewunderung vom "großen Mut" des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, "nicht das Land verlassen zu haben".
Merkel erklärt ihre Überlegungen, die Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland gebaut zu haben, auch darüber, 2008 der Ukraine und Georgien den Status von NATO-Beitrittskandidaten verweigert zu haben. Aber sie will nicht von "Fehlern" zur damaligen Zeit sprechen.
Mit dem russischen Angriffskrieg seit Februar 2022 habe ein neuer "Zeitabschnitt" begonnen. Nun sei es notwendig, "eine glaubwürdige Abschreckung jetzt sehr schnell hinzubekommen". Innerhalb der NATO, mahnt sie. Und es klingt sehr eindringlich.
Im Gespräch macht sie auf Nachfrage direkt klar, dass sie beim Ende ihrer Kanzlerschaft keineswegs "sozusagen das ideale Deutschland hinterlassen" habe. Probleme bei der Infrastruktur, der Digitalisierung, der Bürokratisierung. Aber dafür habe es viele Faktoren gegeben.
Weltpolitiker
Kaum eine Person kommt in den "Erinnerungen" öfter vor als Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation von 1999 bis 2008 und erneut seit 2012. Merkel schildert im Buch eine Schlüsselszene. 2007 in Sotschi saß Merkel erkennbar verängstigt im Bild, als Putins Labrador Koni, wohl zur Freude seines Herrn, um ihren Sessel herumstrolchte.
Dieses Bild sagt so viel über die Macht-Spannung zwischen den beiden. Putin, der Merkel nach ihrer Schilderung früh sagte, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion für ihn die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei.
Unter den drei US-Präsidenten ihrer Kanzlerjahre, die im Buch ausführlich behandelt werden, ragt Barack Obama heraus. Er wird auch am 2. Dezember in Washington mit Merkel die englischsprachige Ausgabe ihres Buches vorstellen. Mit George W. Bush (bis 2009) kam sie eigentlich gut zurecht, Donald Trump (2013-2017) war eine Herausforderung, über die sie sich zuvor sogar mit Papst Franziskus austauschte. Aber Obama wurde so etwas wie ein Freund.
Ihr Bild von Trump festigte sich bereits beim ersten Besuch im Weißen Haus: "Wir redeten auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Trump auf der emotionalen, ich auf der sachlichen. Wenn er meinen Argumenten doch einmal Aufmerksamkeit schenkte, dann zumeist nur, um daraus neue Vorhaltungen zu konstruieren." Und: "Eine gemeinsame Arbeit für eine vernetzte Welt würde es mit Trump nicht geben."
Dabei ist ihre Beobachtung der jeweiligen Gegenüber ausgesprochen präzise. Das wiederholt sich, wenn es um die derzeitigen Präsidenten von China und Indien, Xi Jinping und Narendra Modi, geht. Bei beiden Ländern betont sie Bedeutung und wirtschaftliche Perspektiven, formuliert aber ebenso sachlich aktuelle Schwächen oder überzogenen Nationalismus.
Auffallend: Sachlich und präzise mahnt sie mit Bezug auf Modi Engagement für religiöse Toleranz an. Als Kanzlerin habe sie Berichte über seit Modis Amtsübernahme gehäufte Übergriffe von Hindu-Nationalisten auf Muslime und Christen besorgt verfolgt. "Religionsfreiheit ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Demokratie", mahnt sie.
Die Staatsräson
Nicht wirklich viel in dem Buch ist komplett neu. "Sensationelle Veröffentlichungen" waren, im Gespräch macht sie das deutlich, auch nicht ihre Intention.
Ein Thema, dessen Erörterung in die Kategorie "neu" fällt, ist der Blick auf die derzeit in Berlin neu diskutierte Redeweise von der "Staatsräson" Deutschlands gegenüber Israel. Im Buch geht sie darauf in ihren Erinnerungen an den Israel-Besuch anlässlich des 60. Jahrestages der Staatsgründung im März 2008 ein. Damals durfte sie als erster ausländischer Regierungschef überhaupt vor der Knesset, dem israelischen Parlament, reden. Und formulierte unter anderem: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes."
Das erregte in Deutschland Aufsehen. Und es wird seitdem immer wieder erörtert. Nun verweist Merkel darauf, dass sie "nahezu wortgleich" im September 2007 vor der UN-Generalversammlung in New York formuliert habe. "Das wurde damals kaum registriert", schreibt sie.
Ansonsten mag noch auffallen, was keine Erwähnung findet. Die sieben Bundespräsidenten jener Zeit, in der sie CDU-Vorsitzende oder/und Kanzlerin war, kommen im Grunde inhaltlich überhaupt nicht vor, selten als Staffage in formellen Abläufen. Das mag für die nur relative Bedeutung des Amtes sprechen. Aber man darf auch über mögliche Verstimmungen rätseln.
Kein deutscher Kirchenvertreter, ob evangelisch oder katholisch, wird erwähnt. Der "deutsche Papst" Benedikt XVI. (2005-2013) taucht überhaupt nicht auf; dessen Vorgänger nur einmal knapp aus seiner Zeit vor der Wahl. Und wenn das Wortfeld "Islam" auftaucht, ist stets von "Islamismus", "Islamischem Staat" oder "islamistischem" Terror die Rede. Ohne Ausnahme.
Merkels Freiheit
Als Buchtitel steht das Wort "Freiheit" wie ein Monolith da. Im Vorspann heißt es: "Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht – und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit."
Doch es braucht bis zum Epilog ganz am Ende des Buches, das sie auf das Thema Freiheit explizit noch einmal eingeht. Nicht philosophisch, aber biographisch. "Freiheit – das ist für mich, nicht aufzuhören zu lernen, nicht stehenbleiben zu müssen, sondern weitergehen zu dürfen, auch nach dem Ausscheiden aus der Politik. Freiheit – das heißt für mich, ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen zu dürfen." Sie geht, so wirkt es, ernst und vergnügt weiter.