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Altersarmut wird zunehmen

19. Mai 2011

Altersarmut betrifft heute schon rund 2,5 Millionen Menschen in Deutschland. Fachleute warnen vor einer Verschärfung der Lage. Eine Regierungskommission sollte Gegenmaßnahmen erarbeiten, wurde aber abgesagt.

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Ein Verkehrsschild warnt vor älteren Menschen (Foto: Fotolia)
OECD warnt vor AltersarmutBild: Fotolia/Stephen Finn

Auf dem Herd kochen ein paar Kartoffeln. Dazu gibt es zerstampfte Möhren. In der letzten Woche eines jeden Monats gibt es immer nur Kartoffeln und Möhren. Im Kühlschrank steht noch eine Milch mit abgelaufenem Verfallsdatum aus einer öffentlichen Versorgungsküche, die auch den Salat spendiert hat. Ansonsten liegt in dem Kühlschrank nur noch ein Laib Brot. Dort hält es sich länger. Die Heizung ist bereits seit dem Februar ausgestellt. Für Wärme sorgt ein vierzehn Jahre alter Pullover. So lange ist auch der letzte Urlaub her. Seitdem gab es keine Ablenkungen mehr. Kein Kino, kein Theater.

"Es ist ein Leben ohne Höhen und Tiefen", erzählt Beate Gräbert. Sie ist 72 und wohnt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Köln. Mehr steht ihr auch nach den geänderten Sozialgesetzen in Deutschland nicht zu. Ihr Mann, den sie lange pflegte, verstarb vor vier Jahren. Ihre beiden Kinder wohnen mehrere hundert Kilometer entfernt und können die alte Dame wegen eigener Arbeitslosigkeit nicht unterstützen. Arbeitslos war auch ihr Mann, ein gelernter Schweißer, fast zehn Jahre lang. Beate Gräbert kämpfte nach der Kindererziehung mit kleinen Nebenjobs um ein Überleben. Viel Rente ist da nicht zusammen gekommen.

Streit über Berechnungsmethoden

Nach Abzug der Miete für ihre Wohnung und den Zuzahlungen für teure Medikamente, die Beate Gräbert benötigt, bleiben jeden Tag nicht einmal zwei Euro zum Leben. Nach Angaben der Weltbank haben rund eine Milliarde Menschen weltweit ein ähnliches Einkommen. Nur leben diese Menschen in Ländern, die als Entwicklungsländer bezeichnet werden. Beate Gräbert lebt aber mitten in Deutschland, einem Land, das zu den reichsten der Welt zählt. Die offizielle Armutsrate unter den Ruheständlern liegt derzeit bei 10,3 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung. Statistiker der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) streiten sich aber aufgrund von unterschiedlichen Berechnungsmethoden mit anderen Institutionen um die wahren Zahlen. Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften gehen heute schon von rund 15 Prozent der älteren Bevölkerung aus. Die Zahl der Betroffenen wird in den nächsten fünfzehn Jahren auf zehn Millionen Menschen ansteigen, sind sich fast alle Experten einig. Tendenz: weiter steigend.

Rentnerin ist mit Rollator auf Landstraße unterwegs (Foto: picture alliance)
Viele ältere Menschen müssen alleine klarkommenBild: picture alliance/ZB

Träume vom sorgenfreien Leben im Alter platzen

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Es ist längst nicht mehr nur eine langjährige Arbeitslosigkeit. Es sind die deutlichen Gehaltsrückgänge der nachrückenden Berufsgeneration und fast fünf Millionen geringfügig Beschäftigte, die mit Stundenlöhnen von unter sieben Euro keinen finanziellen Spielraum mehr haben, um eine ausreichende Altersversorgung aufzubauen. Von allen Arbeitnehmern zahlen so nur zwei Drittel überhaupt noch Rentenbeiträge. Das Verhältnis zwischen beruflich leistungsfähigen Zahlern zu älteren Menschen im Ruhestand beträgt derzeit noch 3:1. Das Verhältnis wird sich bis zum Jahr 2030 allerdings auf 1:1 verschärfen. Eine Einheitsrente, die nur noch das Nötigste zum Leben abdeckt, droht schon seit vielen Jahren. Mindestens aber eine Absenkung des Rentenniveaus. Bisher ist dieses Szenario wenigstens vordergründig mit der Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahren verschoben und verdeckt.

Die in den letzten Jahren beschnittenen staatlichen Unterstützungsleistungen werden weiter sinken und können im Alter entstehende Versorgungslücken immer seltener auffangen. In den Pflegestationen hat sich die Situation verschlechtert, weil es mit dem Aussetzen der Wehrpflicht auch kaum noch Zivildienstleistende gibt, die den Mangel an Pflegepersonal auffangen könnten. Weil zudem immer weniger Familien zusammenhalten und führende Sozialforscher mit einer Anzahl von über 40 Prozent an Single-Haushalten bei älteren Menschen rechnen, droht vor allem eine Verarmung durch Krankheit. Beate Gräbert war schon seit vier Monaten nicht mehr beim Arzt, weil sie nicht weiß, wovon sie die lange Anfahrt zum Facharzt bezahlen soll. Öffentliche Verkehrsmittel, die sie benutzen müsste, haben sich in den letzten beiden Jahren um 28 Prozent verteuert.

Das Schweigen zum Problem geht weiter

Rentnerin wühlt in Mülltonne nach Essbarem (Foto: Fotolia)
In den Städten keine Seltenheit: Ältere suchen nach EssensrestenBild: Fotolia/Christa Eder

Im Augenblick kämpfen der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Paritätische Wohlfahrtsverband und die politische Opposition für Mindestlöhne, die auch eine vernünftige Altersvorsorge ermöglichen sollen. Gefordert werden auch staatliche Zuschüsse für eine auskömmliche Rente. Die Bundesregierung lässt im Familien- und im Arbeitsministerium Modelle durchrechnen, die einer gesetzlichen Mindestrente entsprechen würden. Geringverdiener, deren Rentenansprüche trotz langjähriger Berufstätigkeit noch unter dem Niveau staatlicher Sozialleistungen liegen, sollten diese Mindestrente erhalten.

Eine Regierungskommission zum Thema Altersarmut, die in diesen Tagen ihre Arbeit hätte aufnehmen sollen, wurde allerdings abgesagt. Stattdessen soll ein "Regierungsdialog" zu dem Thema im Herbst beginnen.

Beate Gräbert wird die Reparaturarbeiten am einstigen Sozialstaat Deutschland nicht verfolgen. Sie hat ihren Fernseher und ihr Radio abgegeben. "Es kommen da eh nur noch schlechte Nachrichten", sagt sie. Eine Freundin bringt dafür einmal im Monat Bücher aus der öffentlichen Bücherei vorbei. Dann liest die Rentnerin vor dem Fenster, um Strom für Licht zu sparen. Aber auch dieses letzte Vergnügen ist bedroht. Die Stadt Köln, die ihren ohnehin hohen Schuldenberg noch mit einigen fehlgeschlagenen Finanzspekulationen belastet hat, überlegt intensiv die Schließung der öffentlichen Bibliothek in der Nähe von Beate Gräberts Wohnung. Die Rentnerin tröstet sich schon: "Ich kann dann immer noch aus dem Fenster auf die Straße sehen." Ihr Blick fällt dann auf eine Bushaltestelle. Daneben steht ein Müllkorb. Vor dem bleiben immer wieder mal Menschen stehen, die darin wühlen. Beate Gräbert weiß, was die Leute suchen. "Die suchen Essensreste und finden immer wieder etwas, weil die Menschen soviel wegwerfen." Altersarmut ist längst keine Vision der Ferne mehr. Sie ist längst im Alltag von Deutschland angekommen.

Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Pia Gram