Nachbarn mit vergleichbaren Problemen
Um die deutsch-französischen Beziehungen steht es gut. Nur die Extremen werfen Emmanuel Macron vor, gleich nach seinem Wahlsieg zur Kanzlerin geflogen zu sein. Dabei ist solch ein Antrittsbesuch doch längst selbstverständlich!
Man blickt in Frankreich mit viel Bewunderung und auch mit einigem Neid auf die Bundesrepublik. Wie schaffen die das nur? Dieser Exportüberschuss, diese Zufriedenheit, diese gesellschaftliche Ruhe, diese schwarzen Zahlen!
Aber gerade hier in Frankreich wissen nur wenige, was es mit der Politik der schwarzen Zahlen in Deutschland wirklich auf sich hat. Ja, es gibt den Haushaltsüberschuss. Aber warum wird er nicht verwendet, um Schulen, Straßen und Brücken zu sanieren? Wobei französische Firmen hier in großem Stil mitwirken könnten. Solche Maßnahmen wären gut für Deutschland und würden zugleich ein Entgegenkommen bedeuten gegenüber dem französischen Partner!
Frankreich will die Soziale Marktwirtschaft - und Deutschland?
Was Macron in Frankreich umzusetzen versucht, entspricht dem deutschen Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. Allerdings wird im heutigen Deutschland so getan, als zähle allein die freie Marktwirtschaft. Als würde dort ein völliger Wirtschaftsliberalismus herrschen - dabei ist doch der Staat in Form von Bund, Ländern und Kommunen auf den Märkten ständig präsent!
Frankreich wird von seinem östlichen Nachbarn regelmäßig vorgeworfen, dass der Staat hier stets die freie Wirtschaft eingreife. Und in Deutschland? Wenn Air Berlin Insolvenz anmeldet, dann gibt als erstes der deutsche Staat mit Steuergeldern einen Millionenkredit. Schlimmer noch: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Juli heißt es unter der Schlagzeile "Übernahme-Schutz für deutsche Firmen": "Die Bundesregierung will verhindern, dass strategisch wichtige Unternehmen von Investoren aus dem Ausland gekauft werden. Der Bund behält sich künftig ein Vetorecht vor". Versucht hingegen die französische Regierung etwas Ähnliches (zum Beispiel jüngst auf sehr ungeschickte Weise beim Schiffbau), dann hagelt es Kritik aus Deutschland. Wo bleiben eigentlich die Prinzipien des Liberalismus?
Frankreich ist arm dran - seine Industrie geht langsam unter. In der Frankfurter Allgemeinen vom 12. August prangte die Überschrift: "Die Industrie stirbt aus" - gemeint war allerdings die Deutsche. Warum steigt der Dow Jones-Index ständig? Nicht wegen dem, was Trump erhalten will - Stahl-, Kohle- und Auto-Industrie - sondern wegen Silicon Valley und seinen nicht-industriellen Großunternehmen.
Die Demografie - das gemeinsame Problem
Deutschland und Frankreich haben im Prinzip genau die gleichen Probleme. Gewiss hat man in Deutschland besser und schneller verstanden, dass das Ruhestandsalter angehoben werden muss. Denn die Menschen starben ehemals mit 75 - nun gilt es, Hunderttausende Neunzigjährige, bald immer mehr Hundertjährige würdig zu versorgen. Und da steht die Bundesrepublik mit ihrer Kinderarmut noch schlechter da als Frankreich. Dieses Thema wird im deutschen Wahlkampf nicht ehrlich behandelt.
Auch weiß man in Deutschland kaum, dass alle französischen Bürger eine Carte Vitale haben, die sie im öffentlichen Krankenhaus nur vorzuzeigen brauchen, um gratis behandelt und gegebenenfalls auch operiert zu werden. Und mit der sie in der Apotheke alle verordneten Medikamente gratis bekommen. Das französische Staatsdefizit hat weitgehend darin seine Ursache!
Rechts und links - Was bedeutet das heute?
Die Große Koalition erstaunt in Frankreich bis zum heutigen Tag. Gibt es denn keine Kluft mehr zwischen rechts und links? Sind in Deutschland inzwischen alle Sozialdemokraten - inklusive (nicht nur in den Augen der CSU) der Kanzlerin? Andererseits: Was ist denn Macron anderes, als die Verkörperung dieser überwundenen Kluft? Auch er ist zugleich rechts und links.
Dass die Kanzlerin siegen wird und im Amt bleibt, wird in Frankreich erwartet und erhofft. Zu bedauern ist ihr armer Gegenkandidat, der gegen eine Regierung kämpfen muss, welcher seine eigene Partei angehört.
Angela Merkel macht wenige Wahlversprechen und niemand weiß, welche Ziele sie sich eigentlich für die nächste Wahlperiode gesetzt hat. Demgegenüber ist in Frankreich viel Enttäuschung über Macron zu spüren, weil er seine großen, im Wahlkampf angekündigten Pläne nicht verwirklicht.
Der Blick auf den Nachbarn könnte deswegen für beide Seiten - für Deutschland und für Frankreich - von großem Nutzen sein.
Alfred Grosser, geboren 1925 in Frankfurt am Main, lebt seit 1933 in Frankreich und ist seit 1939 französischer Staatsbürger. Der Soziologe und Politikwissenschaftler wurde 1992 als Studien- und Forschungsdirektor an der Fondation nationale des sciences politiques emeritiert. Seit den frühen 1960er-Jahren publiziert er in zahlreichen französischen und deutschen Medien. Zwar entstammt er einer jüdischen Familie, bezeichnet sich selbst jedoch als "Atheist, der dem Christentum nahe steht".