Alarmbereitschaft vor Brexit-Referendum
23. Mai 2016Staaten verabschieden Notfallpläne für dramatische Ereignissen wie Terroranschläge, Naturkatastrophen oder auch Finanzkrisen. Bis vor kurzem erklärte die britische Regierung allerdings, dass man keinerlei Krisenplan in Kraft setzen würde, wenn sich die Wähler am 23. Juni für einen Austritt Großbritanniens aus der EU aussprechen. Das Finanzministerium räumte zwar ein, dass man alle Risiken möglicher Schwankungen des Finanzmarktes einschätzen wolle, wenn das Votum "Verlassen" lauten sollte. Es gab aber kaum Diskussionen darüber, wie das Vereinigte Königreich seine Position neu verhandeln könne, wenn es zum Brexit kommen sollte. Stattdessen waren die ersten sechs Wochen der Kampagne von apokalyptischen Szenarien geprägt - auf beiden Seiten.
Britische Wähler wurden vor schlimmen finanziellen und sozialen Konsequenzen gewarnt - egal, ob das Land nun in der EU bleibe oder sie verlasse. Das habe zu einer totalen Verwirrung geführt, beklagen viele Wähler.
Zum Beispiel gab es die Vorhersage, dass eine Million Einwanderer auf Großbritannien zukämen, wenn das Land in der EU bleibe. Später sprach Finanzminister George Osborne davon, dass im Falle des Brexits die Preise für Immobilien um bis zu 18 Prozent fallen könnten. "So lange nicht exakt definiert ist, was ein Brexit bedeutet, bleibt die Unsicherheit, und jeder kann in jede Richtung spekulieren, wie er will", erklärte Iain Begg, Professor am Europäischen Institut der London School of Economics, im Gespräch mit der DW. Er gehört zur Initiative "Großbritannien in einem sich verändernden Europa", die rund um das Referendum forscht.
Personalisierte Politik
Die Brexit-Debatte wird vor allem durch die Konflikte zwischen Premierminister David Cameron und dem früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson getrübt. Cameron spricht sich für den Verbleib in der EU aus, Johnson wiederholt grimmig, die Briten sollten die EU verlassen - und behauptete sogar, Brüssel wolle wie Adolf Hitler einen Superstaat schaffen.
Bregg sieht sowohl die internen Machtkämpfe als auch die düsteren Prophezeiungen zum Thema Brexit eher skeptisch. Er unterstreicht, dass Großbritannien die EU ohnehin nicht sofort verlassen würde: "Der Ausstieg schreibt danach eine zweijährige Verhandlung vor: über die Art und Weise der Auflösung und darüber, was an die Stelle der bisherigen Vereinbarungen treten soll." An diesem Punkt könnte Großbritannien Handelsfragen, Fragen zur Reisefreiheit oder Sozialstandards regeln. Die EU-Mitgliedsländer könnten Großbritannien dann auch dafür bestrafen, dass es sich für das Verlassen der EU entschieden habe.
"Das wahrscheinlichere Ergebnis dürfte sein, dass es London gelingt, ähnliche Vereinbarungen auszuhandeln wie die Schweizer, die Norweger oder Isländer. So könnten die Briten weiterhin im bisherigen Umfang Zugang zu Europa haben." Der Zeitrahmen dafür könne auch länger als zwei Jahre sein.
Im März sprach der frühere Kabinettssekretär Lord Gus O'Donell in der BBC davon, dass sich die Brexit-Verhandlungen sogar über ein Jahrzehnt hinziehen könnten. Die meisten Experten glauben, dass die bestehenden EU-Verträge so lange in Kraft bleiben, bis der Brexit komplett abgeschlossen ist.
Keine Präzedenzfälle für Brexit
Allerdings gibt es keine Präzedenzfälle, auf die sich die britischen Wähler beim Thema Brexit berufen können, um sich eine Meinung zu bilden. Nur Grönland hat bislang die EU verlassen. Nachdem es sich 1985 von der EU abspaltete, verhandelte es die Beziehungen zu Europa innerhalb von drei Jahren neu.
"Grönland war ein ganz besonderer Fall, weil es eine größere Unabhängigkeit gegenüber Dänemark erreichen konnte und gleichzeitig die EU verließ", sagt Begg. "Grönland hat aber nur 56.000 Einwohner und das einzige wirtschaftliche Interesse (in den Verhandlungen mit der EU) galt dem Fisch." Großbritannien aber hat eine Bevölkerung von über 64 Millionen und ist Europas zweitgrößte Wirtschaftsmacht.
Meinungsumfragen nicht zuverlässig
Einen Monat vor der Abstimmung zum Brexit hat die Kampagne für den Verbleib in der EU wieder deutlich an Anhängern gewonnen. Bisher gab es widersprüchliche Einschätzungen dazu. Die britischen Wähler haben offenbar Angst davor, die EU zu verlassen.
Doch britische Umfragen lagen schon bei vielen anderen Gelegenheiten daneben. "Referenden sind schwer einzuschätzen", sagt Begg. "Die können schief gehen, wie wir das schon zweimal in Frankreich und in den Niederlanden erlebt haben, als es um den Vertrag zur EU-Verfassung ging. Es wird dann schwierig für eine Regierung, den Geist wieder in die Flasche zurückzubringen, wenn er da einmal raus ist", so Begg. "Etwas Unvorhergesehenes könnte passiert, das eine Meinungsänderung aus völlig falschen Gründen nach sich zieht."