Afghanistans neue Doppelspitze
29. September 2014Ashraf Ghani, der neue Präsident Afghanistans, ist ein Technokrat. Er hat seine Anhängerschaft in den vergangenen Jahren massiv ausbauen können. Noch bei den Wahlen 2009 hatte er lediglich drei Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Sein akademischer Background und seine Allianzen mit beliebten Stammesführern und angesehenen Geistlichen haben eine große Zahl an Wählern dazu bewogen, ihm ihre Stimme zu geben.
Wirtschaftsexperte mit Gebetskette
Ghani ist ein ethnischer Paschtune und damit ein Repräsentant der größten afghanischen Volksgruppe. Doch das ist für den 65-Jährigen nicht der einzige Schlüssel zum Erfolg. Experten zufolge kommt ihm auch sein Ruf als exzellenter Wirtschaftsfachmann zugute. Ghani war jahrelang als Ökonom bei der Weltbank beschäftigt. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit lag dabei auf Forschungsprojekten zur Wirtschaft gescheiterter Staaten. In einem DW-Interview erklärte Ghani, dass er die Korruptionsbekämpfung und die Fortentwicklung einer guten Regierungsführung zu einem Schwerpunkt seiner Präsidentschaft machen wolle: "Alle Probleme des Landes hängen unausweichlich miteinander zusammen, wie in einem Teufelskreis," sagte er gegenüber der DW. "Wir glauben, dass gute Regierungsführung Afghanistan zu Wohlstand führen und die Spirale der Gewalt stoppen kann."
Hinzu kommt, dass "Ghani die Massen nicht so polarisiert wie sein Konkurrent Abdullah Abdullah", sagt Michael Kugelman, Südasienexperte am Washingtoner Woodrow Wilson Center: "Während Abdullah ein Politiker ist, der eng mit der Nordallianz verbandelt ist, ist Ghani vor allem ein langjähriger Bürokrat und Wirtschaftsexperte." Dies bringt ihm jedoch nicht nur Vorteile: Viele Afghanen werfen ihm vor, dass er ausgerechnet Afghanistans schwierigste Jahre seit Beginn des ISAF-Einsatzes nicht im Land, sondern weit weg im sicheren Washington verbracht hat. Dort war er meist in Anzug und Krawatte zu sehen, seit seiner Rückkehr nach Afghanistan trägt er lange Hemden und hält oft eine Gebetskette in seiner Hand. Zudem gilt er als launisch, zuweilen sogar als cholerisch. Besonders überraschend war seine Allianz mit dem früheren Warlord Abdul Rashid Dostum, den er zu seinem Stellvertreter erklärte, obwohl dieser für schwere Verbrechen nach dem Sturz der Taliban verantwortlich gemacht wird.
Ghani selbst ist unbelastet durch die Kriegszeit, da er das Land bereits 1977 vor dem Einmarsch der Roten Armee verließ. Erst nach dem Sturz der Taliban im Zuge der US-geführten Intervention 2001 kehrte er nach Kabul zurück und diente dem UN-Gesandten Lakhdar Brahimi als Sonderberater. In der Übergangsregierung von Präsident Hamid Karsai war er von 2002 bis 2004 Finanzminister, unter anderem führte er eine neue Währung und ein neues Steuersystem ein. Später leitete der für seine scharfe Zunge bekannte Politiker die Nationale Sicherheitskommission. In dieser Rolle überwachte er die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die Afghanen.
Ein staatsmännischer "Geschäftsführer"
Für Abdullah, Ghanis schärfsten Konkurrenten ums Präsidentenamt, entwickelten sich die Wahlen immer mehr zum Déjà-vu-Erlebnis. Denn der Politiker und Mediziner war schon bei den Wahlen 2009 angetreten und hatte es bis in die Stichwahl mit Afghanistans scheidendem Präsidenten Hamid Karsai geschafft. Doch dann verweigerte er die Teilnahme an dieser Stichwahl und warf seinem Rivalen massiven Wahlbetrug vor. Diesmal hielt er die Stichwahl durch – doch auch bei den Wahlen 2014 erkannte Abdullah das Ergebnis nicht an und beklagte massive Wahlfälschungen zu seinen Ungunsten.
Abdullah ist ein langjähriger Oppositionspolitiker und ein berühmtes Mitglied der ehemaligen Nordallianz, die gemeinsam mit den USA Ende 2001 die Taliban stürzte. Abdullahs enges Verhältnis zum letzten Führer der Nordallianz, Ahmad Schah Massud, brachte ihm eine breite Unterstützung ein. "In Afghanistan haben viele Menschen genug von der Gewalt der Taliban, und für diese Menschen ist Abdullahs Verbindung mit der Nordallianz sehr verlockend", sagt Michael Kugelman, fügt allerdings hinzu, dass Abdullah zögerlicher wäre als Ghani, wenn es um Verhandlungen mit den Taliban geht. Tatsächlich hat hier Ghani bereits die Initiative ergriffen. Kurz nach seiner Vereidigung zum neuen Präsidenten lud er Vertreter der radikal-islamischen Taliban zu Friedensgesprächen ein.
Experten glauben, Abdullahs größte Stärke liege in seinem staatsmännischen Auftreten. Als früherer Außenminister hat er die diplomatische Erfahrung, die es brauche, um mit den Nachbarstaaten Pakistan und Iran zu reden, gleichzeitig aber auch die Gesprächskanäle nach Washington offenzuhalten. Er bekleidet in der neuen Regierung den Posten eines "Geschäftsführers". Bislang gibt es jedoch noch keine Äußerung darüber, welche Befugnisse damit verknüpft sind.