Sanktionen behindern Hilfe für Afghanistan
12. Januar 2022"Es zeichnet sich eine riesige humanitäre Katastrophe ab", warnt Martin Griffiths, der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen. 22 Millionen hilfebedürftige Menschen in Afghanistan und weitere fast sechs Millionen vertriebene Afghanen in den Nachbarländern müssten dringend unterstützt werden. Dafür sind nach UN-Angaben mindestens 4,5 Milliarden Euro nötig. Es ist der größte je lancierte Hilfeaufruf der Vereinten Nationen.
UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi warnt außerdem, eine Katastrophe in Afghanistan werde auch zu weiteren Vertreibungen mit Folgen für die ganze Region führen. Und "diese Fluchtbewegung wird schwer zu kontrollieren sein". Das spürt man auch in Deutschland: Die Zahl der Asylbewerber aus Afghanistan ist seit der Machtübernahme der Taliban deutlich gestiegen.
Ohne ausländische Hilfe läuft fast nichts mehr
Die Gründe für die große Not sind aber nicht nur die schwere Dürre und die Tatsache, dass die Taliban die Erwerbsmöglichkeit von Frauen stark eingeschränkt haben. Nachdem die Taliban im August vergangenen Jahres das gesamte Land erobert hatten, haben zahlreiche Regierungen weltweit die Hilfe für Afghanistan gestoppt oder deutlich gekürzt und im Ausland geparkte Reserven der afghanischen Zentralbank eingefroren.
Afghanistan war auch schon vorher ein sehr armes Land. Nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) lebte vor der Machtübernahme der Taliban rund die Hälfte der afghanischen Bevölkerung in Armut. Bis Mitte 2022 könnten es nach Schätzung des UNDP aber 97 Prozent sein.
Viele Bauern, Lehrer, Polizisten oder Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Verwaltung haben seit den Sanktionen keine Einnahmen mehr, weil sie von der internationalen Gemeinschaft bezahlt wurden. Bis August 2021 stand die ausländische Hilfe für 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und sogar für etwa drei Viertel der afghanischen Staatsausgaben. Das heißt, von Energieeinfuhren bis hin zu Lehrergehältern wurde der weitaus größte Anteil durch ausländische Hilfe gedeckt.
International Crisis Group: Hunger tötet mehr Menschen als Bürgerkrieg
Der Löwenanteil fiel seit der Machtübernahme der Taliban weg, weil die Staatengemeinschaft das Geld nicht den neuen Machthabern überlassen wollten. Praktisch über Nacht ging Banken das Geld aus, Millionen Menschen wurden arbeitslos oder erhielten kein Gehalt mehr, die Währung verlor drastisch an Wert, die Preise zogen steil an.
Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe, bestätigte im Deutschlandfunk, die "Wirtschaft befindet sich im freien Fall". Es habe "kaum noch jemand Arbeit, Geld ist extrem knapp, das Bankensystem ist zusammengebrochen", ebenso das Gesundheits- und das Bildungssystem.
Immerhin hat die Staatengemeinschaft die humanitäre Hilfe weitergezahlt. Sie betrug 2021 nach UN-Angaben rund 1,5 Milliarden Euro, das war sogar deutlich mehr als in den Jahren davor. Aber ein Ausgleich für den Wegfall der sonstigen Unterstützung ist es nicht.
Die in Brüssel ansässige Organisation International Crisis Group (ICG) warnt, Hunger und Elend dürften "mehr Afghanen töten als alle Bomben und Gewehrkugeln der vergangenen 20 Jahre". Und die ICG hat auch schon den "Hauptschuldigen" dafür ausgemacht. Verantwortlich dafür sei, dass die ausländischen Geldgeber ihre Unterstützung bis auf die humanitäre Hilfe eingestellt haben.
Die Taliban werden als Terrororganisation eingestuft
Die Taliban bleiben für die internationale Gemeinschaft eine Terrororganisation, die mit Sanktionen belegt wird. Einer schnellen Hilfe steht dies im Wege. Zwar hat der Weltsicherheitsrat im Dezember Hilfsorganisationen grünes Licht dafür gegeben, dass eine Aufstockung lebensrettender Hilfe kein Sanktionsbruch sei. Aber viele Beobachter halten das für zu wenig: Es müsse wieder Geld in die afghanische Wirtschaft fließen.
Es ist das erste Mal, dass eine international geächtete, mit Sanktionen belegte Gruppierung die Macht in einem Land übernimmt. Und das stellt die Regierungen und Hilfsorganisationen vor ein Dilemma: Wie können sie der notleidenden Bevölkerung helfen, ohne dass diese Hilfe den Taliban zugutekommt, die für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden?
Als Ausweg versuchen die ausländischen Helfer, die Taliban-Behörden zu umgehen. Ende vergangenen Jahres gab die Weltbank einen Teil des 1,5 Milliarden Dollar schweren Afghanistan-Wiederaufbaufonds an das Welternährungsprogramm und das UN-Kinderhilfswerk UNICEF frei; der Fonds war die größte Finanzierungsquelle der früheren, westlich gestützten afghanischen Regierung. Die Vereinten Nationen haben außerdem unter Umgehung des afghanischen Gesundheitsministeriums die Gehälter tausender Beschäftigter im afghanischen Gesundheitswesen bezahlt, einen Darlehensfonds für kleine Unternehmen und für Infrastrukturprojekte eingerichtet. Aber das bedeutet keine durchgreifende Verbesserung.
Hilfsorganisationen: mit Taliban verhandeln
Die International Crisis Group fordert die Staatengemeinschaft auf, die eingefrorenen afghanischen Vermögenswerte im Ausland freizugeben, die Sanktionen zu lockern und mit den Taliban zu verhandeln, um eine grundlegende Versorgung der Bevölkerung wieder in Gang zu bringen. "Wir bereiten uns auf die größte Hilfsoperation der Welt vor und belassen gleichzeitig die wirtschaftlichen Einschränkungen, die jeden Tag die Not verschlimmern", sagt Graeme Smith vom ICG. "Das ist kontraproduktiv."
Mathias Mogge von der Welthungerhilfe sagt: Die Taliban selbst "klopfen an unsere Tür und sagen: 'Tut etwas, helft unserer Bevölkerung'". "Das heißt noch lange nicht, dass man das Taliban-Regime anerkennen muss." Sein Appell gilt auch der Bundesregierung in Berlin, "Wege zu finden, mit den Taliban in Verhandlungen zu treten, so dass Basisdienste wieder funktionieren können".
Ohne massive weitere Hilfe, so UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths klipp und klar, "gibt es keine Zukunft". Dann würden die Menschen die Hoffnung verlieren. Doch wenn die Hilfe zusammenkomme, "wird Afghanistan die Chance haben, endlich die Früchte einer gewissen Sicherheit zu genießen".