Afghanische Wirtschaftselite 'Made in Germany'
3. Dezember 2010Es gibt nur einen Bereich, in dem Afghanistan Weltmarktführer ist: beim Mohnanbau. Die Hauptwirtschaftsgüter Mohn, Heroin und Waffen schüren die Konflikte im Land. Um eine Eskalation zu verhindern, haben die NATO und ihre Verbündeten fast 150.000 Soldaten am Hindukusch stationiert. Nun sollen sie bis zum Jahr 2014 abgezogen und die Verantwortung an die afghanische Regierung übertragen werden.
Doch ohne wirtschaftliche Erfolge erscheint es kaum möglich, das Land langfristig zu regieren. Versuche, die Wirtschaft im Land in Gang zu bringen, sind vielfach gescheitert. Das Land ist auch weiterhin von den internationalen Hilfsgeldern abhängig.
Trotz des großen internationalen Hilfsbudgets fehlt es in Afghanistan an qualifizierten einheimischen Ökonomen, die die Mittel planvoll und effektiv einsetzen können. Am Bochumer Institut für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik (IEE) hat man den akademischen Wiederaufbau des Landes fest im Blick: Seit 2002 arbeiten Professor Wilhelm Löwenstein und sein Team daran, die künftige Wirtschaftselite Afghanistans auszubilden. Deutschland nimmt damit international eine Vorreiterrolle ein.
Neue Bachelor-Standards
"Der Krieg hat alles zerstört, auch die Qualität der Hochschulen. Das Studium an afghanischen Universitäten unterscheidet sich wesentlich von dem, was an der Ruhr-Universität in Bochum gelehrt wird", sagt Khwaja Muhammad Ahmad-Zi. Der 24-jährige Afghane ist Dozent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Kandahar und nimmt derzeit an einem Ausbildungsprogramm des Bochumer Instituts teil.
"Ich möchte künftig die Politik in Afghanistan mitgestalten. Deshalb habe ich mich für die Wirtschaftswissenschaften entschieden. Ökonomisches Know-how ist schließlich auch Grundlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen", sagt Ahmad-Zi. Ziel der Weiterbildung am Bochumer Institut ist es, den in Afghanistan erworbenen Hochschulabschluss durch einen international anerkannten Bachelor zu ersetzen. Danach können die afghanischen Dozenten den Master erwerben und je nach Eignung promovieren - so zumindest sieht es das Bochumer Institut vor.
Akademischer Wiederaufbau
Am Ende seines Bachelor-Trainings in Deutschland wird Khwaja Muhammad Ahmad-Zi nach Kandahar zurückkehren und dort die dringend benötigten Ökonomen weiter ausbilden. Der akademische Wiederaufbau umfasst neben der personellen Ausbildung auch die Infrastruktur der Lehre. "Das Lehrmaterial ist veraltet und beruht oft noch auf Vorlesungsmitschriften, die ältere Professoren aus ihrer Studienzeit in Deutschland, den USA oder der damaligen UdSSR mitgebracht haben", erklärt Projektleiter Professor Löwenstein. Zudem fehle es an einheitlichen Lehrplänen: Studierende in Kandahar lernen etwas anderes als Studierende des gleichen Fachgebietes in Kabul.
Seit dem Sturz der Taliban ist das Institut für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik der Universität Bochum maßgeblich am akademischen Wiederaufbau beteiligt. In Kooperation mit afghanischen Kollegen und dem "Ministry of Higher Education" wird derzeit an allen afghanischen Wirtschaftsfakultäten ein einheitliches Bachelor-Curriculum etabliert. "Unterfüttert wird der Lehrplan mit Lehr- und Lerntexten auf Englisch, Dari und Paschtu", erklärt Wilhelm Löwenstein. "Und anhand dieses Lehrplans bilden wir in Bochum alle jungen Wirtschaftsdozenten aus, so dass sie dann, wenn sie nach Hause gehen, das neue Curriculum mit den neuen Inhalten ihren Studierenden beibringen können."
Ziel ist es, Multiplikatoren zu trainieren, die in Afghanistan bei dem Aufbau einer neuen Wirtschaft helfen können.
Unterstützung für Demokratisierungsprozess
Mit seinem Engagement nimmt das deutsche Institut im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle ein. Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften haben sich andere Nationen inzwischen zurückgezogen. Löwenstein schätzt, dass Bochum in Bezug auf den Projektumfang - neben der TU Berlin, die auf dem Gebiet Informatik tätig ist - die größten Hochschulprojekte innerhalb Afghanistans durchführt. Das Bochumer Institut betreut derzeit acht Partneruniversitäten in Afghanistan.
Alexander Kupfer vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) hält den akademischen Aufbau in Afghanistan über die Landesgrenzen hinaus für essentiell: "Der unmittelbare Eigennutzen, den man sich davon verspricht, ist, dass von Afghanistan nicht wieder Terrorismus und Bedrohung für die Welt ausgehen. Das heißt, es ist ein eigenes Sicherheitsinteresse, das dem europäischen, dem internationalen Engagement in Afghanistan zu Grunde liegt".
Globales Interesse an Zusammenarbeit
Natürlich spielen auch wirtschaftliche Interessen am Hindukusch eine Rolle. Immer wieder gibt es Meldungen über enorme Rohstoffvorkommen, die jedoch gerne überschätzt würden, sagt DAAD-Projektkoordinator Kupfer. Denn nur unter ganz erheblichem Einsatz sei deren Ausbeutung möglich, so dass es sich wirtschaftlich nicht rechnen würde.
Für die afghanischen Dozenten, die bis Ende November 2010 das Bachelor-Training in Bochum absolvieren, sind diese Überlegungen zweitrangig. Hoch motiviert und mit einem guten Gespür dafür, was ihr Land braucht, nutzen sie jede Minute, um ihr Wissen zu erweitern.
Autorin: Ulrike Hummel
Redaktion: Helle Jeppesen / Marco Müller