Die Botschaft der Kinder von Sant'Anna
11. August 2019"Meine Mutter und eine andere baten um Gnade für die Neugeborenen, die sie in den Armen hielten. Aber sie wurden direkt erschossen." Siria und Adele Pardini sitzen in der Kirche des toskanischen Bergdorfs Sant'Anna di Stazzema. Kurz vor dem 75. Jahrestag des Massakers schildern die Schwestern den 17- bis 26-Jährigen vom "Campo della Pace", einem Friedenscamp für junge Deutsche und Italiener, ihre Erinnerungen an den 12. August 1944. Später öffnen sie ihnen ihr Elternhaus, in dem Siria Pardini ihre Mutter das letzte Mal gesehen hat - aufgebahrt, mit einem Kopfschuss.
Die achtjährige Siria war am 12.8.1944 mit dem Vater und drei Geschwistern unterwegs zu den Tieren der Familie in einem Olivenhain. Als sich die Deutschen Sant'Anna über die umliegenden Pässe näherten, verließen die meisten Männer das Dorf, weil sie fürchteten, zum Arbeitseinsatz verschleppt zu werden. Frauen und Kindern passiert nichts, davon waren alle überzeugt.
Das jüngste Opfer: Anna war 20 Tage alt
Adele Pardini, damals knapp fünf Jahre, war in ihrem Ortsteil Coletti bei den 25 bis 30 Frauen, Kindern und alten Menschen, die die deutschen Soldaten vor eine Hauswand trieben - "nach Größe aufgestellt". "Ich gehörte zu den Kleinsten", berichtet sie. Sie atmet tief durch und seufzt. Die Soldaten schossen mit Pistolen und Maschinengewehren. Als ihre Mutter und kurz darauf all die anderen unter den Schüssen zusammenbrachen, sagt sie, öffnete sich durch den Druck der Körper eine Tür hinter ihr. Ihre ältere Schwester Cesira zog Adele und eine weitere Schwester in den Stall dahinter, beide durch Streifschüsse leicht verletzt.
Die Deutschen zündeten alles an, sagt Adele Pardini, dann zogen sie ab: "Um rauszukommen, musste ich über meine Mutter laufen. Sie lag in der Tür." Ihre Schwester Cesira nahm der Mutter das wimmernde Baby Anna aus den Armen, auch einen einjährigen Jungen zog sie verletzt unter den Toten hervor. Die kleine Anna, das jüngste Kind der neun Pardini-Geschwister, war erst 20 Tage alt. Sie erlitt lebensgefährliche Verletzungen, ebenso wie ihre große Schwester Maria (16). Maria war "vollkommen durchlöchert", sagt Adele Pardini. Sie schaut ihre Zuhörer an, von denen einige mit den Tränen kämpfen. "Ich glaube, es reicht jetzt", sagt sie irgendwann.
Enrico Pieri überlebte das Massaker der deutschen SS-Truppen, weil ihn ein Mädchen in ihr Versteck unter einer Treppe rief: "Ich war 10 Jahre alt, meine Familie bestand aus Papa, Mama und zwei Schwestern." Er musste miterleben, wie deutsche Soldaten seine ganze Familie erschossen. Auch die Großeltern starben, Onkel und Tanten. "Der 12. August 1944 in Sant'Anna war die Hölle", sagt er den Friedenscamp-Teilnehmern beim Treffen in Pietrasanta in der Ebene am Mittelmeer, wo er heute lebt. Von hier aus war ein Teil der deutschen Soldaten nachts nach Sant'Anna aufgestiegen: "In drei Stunden haben sie über 560 Menschen ermordet." Er räuspert sich immer wieder.
Viele hundert Flüchtlinge
Diese Opferzahl wurde anhand der gefundenen Knochen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ermittelt. Namentlich identifizieren konnte man nur etwa 400 Opfer. Das lag auch daran, dass viele hundert Geflüchtete aus umkämpften Orten der Umgebung auf schmalen Wegen und Maultierpfaden ins vermeintlich sichere Bergdorf gekommen waren. Seit dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten im Herbst 1943 kämpften die früheren Achsenmächte Berlin und Rom gegeneinander. Angriffe italienischer Partisanen beantworteten die deutschen Befehlshaber vielerorts mit Racheakten gegen die Zivilbevölkerung.
Die Bewohner Sant'Annas öffneten für die Flüchtlinge Kirche und Schule, Häuser und Ställe. Es war schwer, so viele Menschen zu ernähren, berichtet Enio Mancini. Er selbst, damals sechs Jahre, genoss es, mit so vielen Kindern zu spielen - zuletzt am Abend des 11. August auf dem Kirchplatz. Am nächsten Morgen waren die deutschen Soldaten da. Sie trieben Familie Mancini aus ihrem Haus im Ortsteil Sennero: kaum angezogen, ohne Schuhe den steilen Berg hinunter. "Schnell, schnell", ruft der heute 81-Jährige mit rauer Stimme auf Deutsch. Irgendwann waren sie allein mit einem Soldaten. Der gab ihnen Zeichen wegzulaufen. Dann aber fielen Schüsse. Voller Angst drehten sie sich um, erinnert sich Enio Mancini: Sie sahen, dass er in die Luft schoss, und entkamen.
"Hier kannst du nicht spielen"
Andere Soldaten töteten hunderte Menschen, auch Enios beste Freunde Velio und Vilma. Allein auf dem Kirchplatz wurden weit über 100 Menschen erschossen, dann mit Kirchenbänken und Möbeln bedeckt und angezündet. Die Deutschen verließen Sant'Anna gegen 10 Uhr: "Sie sangen."
Bis zu jenem Tag sei der Krieg für die Kinder nur ein entferntes Geräusch gewesen, die Flugzeuge der Alliierten, die deutsche Stellungen bombardierten, für ihn im abgelegenen Sant'Anna wie ein Spiel, erinnert er sich: "Dann habe ich verbrannte Tote gesehen, überall der Geruch von verbranntem Fleisch, da habe ich es verstanden."
Kindsein, lachen, spielen war danach nicht mehr möglich, erinnert sich Mancini. "Unsere Mütter riefen: Hier kannst du nicht spielen, hier ist der begraben. Dort kannst du nicht spielen, da war ein Massengrab." Alle waren tief traurig und kämpften ums Überleben. Fünf Jahre später kam er auf ein Internat in Pisa: "Das war die Zeit, als die Alpträume aufhörten."
"Mit Hass kommt man nicht weiter"
Anfangs habe man die Deutschen gehasst, berichten Enio Mancini und Enrico Pieri. Über das Massaker wurde geschwiegen. Zu einem Prozess gegen Täter kam es nur in Italien, aber erst 60 Jahre später, ohne Folgen für die Verurteilten, die unbehelligt in Deutschland lebten und starben. "Mit Hass kommt man nicht weiter", sagen die Überlebenden. Sie sprechen bei den Tätern lieber von Nazis und Faschisten als von Deutschen.
Ihre Überzeugung leben Mancini und Pieri mit ihrem Einsatz für die Erinnerungsarbeit und die Aufklärung junger Menschen, "damit sie sehen, was passieren kann". Pieri ging in den 1960er Jahren zum Arbeiten in die Schweiz: "Aber Sant'Anna habe ich nie verlassen." Als 1970 sein Sohn Massimo geboren wurde, entschloss er sich, "ihn auf eine deutschsprachige Schule zu schicken".
Durch gegenseitige Verständigung, so habe er gehofft, "können wir ein neues Europa schaffen". Man habe viel geschafft, doch die neuen europafeindlichen Tendenzen - auch in Italien - machen ihm Sorgen: "Heute sind wir an einem Punkt, wo wir Gefahr laufen, dieses Europa zu verlieren."