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Politik

Umstrittenes Deradikalisierungs-Programm

Cathrin Hennicke
16. Mai 2018

Frankreichs Gefängnisse gelten als Brutstätten für radikale Islamisten. Ein neues Programm soll dem entgegenwirken. Doch es trifft nicht den Kern des Problems, monieren Kritiker. Lisa Louis berichtet.

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Frankreich Gefängnis Vendin-le-Vieil
Bild: DW/L. Louis

Mehr als 10.000 Menschen gelten in Frankreich als radikalisiert. Bisherige Deradikalisierungs-Programme sind in den Augen vieler Kritiker gescheitert. Jetzt startet die Regierung einen neuen Versuch. Ein 60-Punkte-Plan soll helfen, radikalisierte Islamisten in Unternehmen, Verwaltung, Schulen oder Sportvereinen zu erkennen. Radikale Botschaften sollen schneller aus dem Internet entfernt und soziale Medien effektiver zur Auseinandersetzung mit radikalen Predigten genutzt werden.

Auch der Umgang mit radikalisierten Gefängnisinsassen wird verändert. Im nordfranzösischen Hochsicherheitsgefängnis Vendin-le-Vieil sollen künftig bis zu 24 von ihnen zeitgleich in einem speziellen Trakt verhört werden können, erklärt Direktor Vincent Vernet der DW.

"Innerhalb von acht Wochen kann ein Team von Pädagogen, Bewährungshelfern und Psychologen die Häftlinge befragen. Sind sie extrem gefährlich und radikalisiert, kommen sie in Einzelhaft", sagt er. "Diejenigen, die nicht selbst unmittelbar einen Anschlag zu planen scheinen, aber andere dazu anstiften könnten, werden in interdisziplinären Teams untergebracht."

Vincent Vernet
Vincent Vernet, Direktor des Hochsicherheitsgefängnissen mit Spezialtrakt für radikalisierte IslamistenBild: DW/L. Louis

Komplette Isolation

Sechs derartige Abteilungen sind bereits geöffnet oder werden in naher Zukunft mit der Arbeit beginnen. Sie sind komplett von den übrigen Gebäuden der Haftanstalt abgeschottet und haben eigene Wachen. Genau wie die speziell zugeschnittenen Gefängnissektionen, in die die Insassen später geschickt werden. Bis Ende nächsten Jahres sollen etwa 1.500 Gefangene dort untergebracht werden können.

"Es ist wirklich wichtig, radikalisierte Häftlinge vollständig zu isolieren, um sicherzustellen, dass sie ihre radikalen salafistischen Ideen nicht verbreiten. Vor allem nicht an dafür anfällige Menschen oder solche, die nach Orientierung suchen", erklärt Vernet.

Anstelle einer Gefängnisstrafe oder auch nach Ende der Haft können radikalisierte Islamisten von einem Richter verpflichtet werden, an einem Deradikalisierungsprogramm teilzunehmen. In Mulhouse, im nordöstlichen Elsass, gibt es bereits ein derartiges Programm.

Von dort kamen auch der Messerangreifer von Paris und einer der Terroristen, die bei den Anschlägen im November 2015 in der Hauptstadt 130 Menschen töteten.

Das elsässische Pilotprojekt wurde von einem örtlichen Staatsanwalt konzipiert und startete im Oktober 2015. Seitdem haben ungefähr 30 Menschen das sechs Monate bis drei Jahre dauernde Programm durchlaufen. Es wird von multidisziplinären Teams begleitet, zu denen auch Psychologen und Pädagogen gehören.

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Muslime zu "Sündenböcken" gemacht

Nach Meinung von Kritikern aber trifft die neue Deradikalisierungs-Strategie nicht den Kern des Problems. Das meint auch Mohamed Bajrafil. Er gilt als einer der fortschrittlichsten Imame Frankreichs und predigt in einer Moschee in Ivry-sur-Seine im Südosten von Paris.

"Die Regierung ist dafür zuständig, das Land zu verteidigen, seine Menschen zu beschützen und sich um die Bildung zu kümmern. Aber die neue Strategie zielt fast ausschließlich auf Verteidigung und Schutz. Wie man die Menschen einen friedlichen Islam lehrt, darüber wird so gut wie nichts gesagt. Dabei wäre das die effektivste Waffe im Kampf gegen die Radikalisierung", erklärt Bajrafil der DW.

"Wir werden oft zu Sündenböcken gemacht. Wir müssen uns rechtfertigen und uns von barbarischen Akten distanzieren, die wir nicht begangen haben. Aber wir sind Teil dieser Nation. Indem die Politiker uns die Schuld geben, spielen sie den radikalen Islamisten in die Hände. Die können dann potenziellen Rekruten gegenüber behaupten, dass Frankreich seine Muslime ja sowieso nicht mag", betont Bajrafil.

Frankreich Gefängnis Vendin-le-Vieil
Radikalisierte Islamisten sollen künftig in Einzelhaft kommenBild: DW/L. Louis

Islam - "der einzige Weg, sie zurückzubringen"

Den Islam zu stigmatisieren, sei besonder schädlich, weil die Religion ironischerweise oft der einzige Weg sei, die Radikalisierungsgefährdeten zurückzuholen, sagt Fabien Truong. Er lehrt am Institut für für Soziologie und Anthropologie der Universität von Paris VIII Vincennes-Saint Denis.

Truong hat zwei Jahre lang Familie und Freunde von Amedy Coulibaly im Pariser Vorort Grigny befragt. Coulibaly verübte im Januar 2015 den Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Paris und tötete vier Geiseln. Der Angriff geschah direkt nach der Terror-Attacke auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo.

"Die Regierung investiert kaum in kulturelle Aktivitäten oder in Bildung in Problemvierteln. Junge Menschen fühlen sich zurückgewiesen und viele von ihnen wenden sich der Kriminalität zu, dem Drogenhandel zum Beispiel. Mit Ende 20 versuchen viele dann, da rauszukommen. Aber berufliche Perspektiven gibt es kaum und so ist ein friedlicher Islam die einzige Hoffnung, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben", meint der Wissenschaftler Truong.

Imam Mohamed Bajrafil
Die Regierung müsse mehr in Bildung investieren, fordert der als fortschrittlich geltende Imam Mohamed BajrafilBild: DW/L. Louis

Bildung statt Verteufelung

Seiner Ansicht nach nehmen nur sehr wenige Menschen den radikalen Islam als Vorwand, einen Terroranschlag zu begehen: "Wenn wir also den Islam generell verteufeln, versperren wir diesen Menschen den Weg zurück zu einem normalen Leben".

Stattdessen, schlägt Truong vor, sollte die Regierung mehr Geld für kulturelle Aktivitäten und Bildung in den Vororten bereitstellen. "Die jungen Leute hätten dann keinen Grund mehr, sich dem radikalen Islam zuzuwenden. Sie würden sich von der französischen Gesellschaft weniger zurückgewiesen fühlen."

Das Verhältnis Frankreichs zur Religion ist kompliziert. Es gilt das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche - auch im Gefängnis.

"Nehmen wir den belgischen Weg: Im Kampf gegen Radikalisierung kooperieren die Gefängnisbehörden eng mit Imamen, die einen friedlichen Islam lehren. Aber unser Herangehen ist anders. Wir wollen die religiösen Ansichten der Menschen nicht ändern", erklärt Gefängnisdirektor Vernet. Man wolle sie lediglich von Anschlägen abhalten.

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Wirklichkeit contra Theorie

Xavier Crettier, Professor für politische Wissenschaften am Institut für politische Studien Sciences Po Saint-Germain-en-Laye, ist überzeugt, dass "nur religiöse Gegenargumente die Menschen davon überzeugen können, ihren radikalen Ansatz aufzugeben". 

In seinen Augen gibt es dafür zwei Möglichkeiten. "Rückkehrer aus Syrien und dem Irak könnten aufgefordert werden, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Kämpfer trinken Alkohol, rauchen und vergewaltigen Frauen. Es wäre für radikalisierte Menschen schwierig, an den Theorien des 'Islamischen Staates' festzuhalten, wenn sie mit diesen Fakten konfrontiert würden", ist Crettier überzeugt. 

Die andere Möglichkeit wäre, dass die Regierung sie von einem friedlichen Islam überzeugt - mit Hilfe sogenannter pietistischer Salafisten zum Beispiel. "Die praktizieren einen sehr strikten aber friedlichen Islam", meint der Wissenschaftler. Sie würden auch von den dschihadistischen Islamisten respektiert. Selbst wenn sie nicht mit ihnen übereinstimmten. 

Die Regierung allerdings ist von der Wirksamkeit ihrer Strategie überzeugt. Allein im letzten Jahr konnten in Frankreich 20 Terrorangriffe verhindert werden. Mindestens einer davon, so die Regierung, sei aus einem Gefängnis heraus geplant worden.