2014: Vereinigt, vernetzt, verunsichert
20. Juni 2014"Ich würd' gern so vieles tun, meine Liste ist so lang, aber ich werd' eh nie alles schaffen", spricht Julia Engelmann ins Mikrofon. "Also fange ich gar nicht erst an. Stattdessen hänge ich planlos vorm Smartphone, warte bloß auf den nächsten Freitag. 'Ach, das mache ich später', ist die Baseline meines Alltags."
Der Text stammt von einem Poetry-Slam in der Universität Bielefeld. Die Dichterin: Eine 21-jährige Psychologie-Studentin. Das Video des Auftritts wird Anfang 2014 zum großen Netz-Hype: Auf Facebook und Twitter geteilt, in Blogs gepostet und an WG-Tischen diskutiert. Mittlerweile wurde der Clip auf Youtube mehr als sechs Millionen Mal angesehen. Bei genauerem Hinhören ist die dichterische Qualität des Textes eher mittelmäßig, doch irgendwie hat Julia Engelmanns Nachdenken über verpasste Chancen den Nerv einer Generation getroffen.
Eine Generation, die oft dafür kritisiert wird, sich treiben zu lassen, keine großen Ideale mehr zu haben. Und das nicht nur von den Alten, sondern auch von ihren eigenen Altersgenossen. In der Wochenzeitung "Die Zeit" schrieb die junge Journalistin Frida Thurm schon 2006: "Die Generation der heute Mitte-Zwanzig-Jährigen hat nichts mehr, woran sie sich reiben kann und verlernt den Protest. Diese Generation muss überall durchpassen, sich anpassen, sich klein machen. Diese Generation ist glatt."
Protest mit Hashtags, Engagement mit Crowdfunding
Dabei ist dieser vermeintlich angepassten Generation ganz und gar nicht alles egal. Sie protestiert - nur eben anders. Seit dem Bekanntwerden der Massenüberwachung durch den US-amerikanischen Geheimdienst NSA bekunden junge Menschen im Netz tausendfach ihre Sympathie für den Whistleblower. Sie hängen Schilder mit der Aufschrift "Zimmer frei für Edward Snowden" in ihr Fenster. Unter dem Hashtag "Aufschrei" protestierten vor gut einem Jahr Zehntausende auf Twitter gegen Sexismus. Im Netz unterstützen die "Digital Natives" Crowdfunding-Kampagnen für kreative und wohltätige Projekte, die ihnen am Herzen liegen. Statt Massendemonstrationen nutzen sie die neuen technischen Möglichkeiten, um ihre Welt mitzugestalten.
Scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten
Die heute 12- bis 25-Jährigen sind überwiegend optimistisch. In der Shell-Studie, die alle paar Jahre die Befindlichkeit der deutschen Jugend abfragt, sagten im Jahr 2010 56 Prozent, dass sie positiv in die Zukunft blicken. Die Zahl der Studienanfänger hat sich seit 1993 fast verdoppelt. Jungen Deutschen stehen heute so viele Türen offen wie nie zuvor. Doch durch welche Tür sollen sie gehen?
"Es wird einem suggeriert, dass man alles werden kann", schreibt Sarah Kuttner, Autorin und ehemalige Moderatorin des legendären Musiksenders "Viva". "Es erfordert heute mehr Stärke, um mit der großen Auswahl an Möglichkeiten fertig zu werden. Das kann einen auch überfordern." Doch nicht alle jungen Deutschen haben dieses "Luxusproblem". Rund neun Prozent aller erwerbsfähigen 15- bis 24-Jährigen finden keine Arbeit oder Ausbildung und erhalten Unterstützung vom Staat.
Vereintes Europa und Multikulti
Die heutigen Teenager und Twens sind in einem vereinten Europa groß geworden. Und sie schätzen die Freiheiten, die Europa ihnen gebracht hat. Sie können ihren Arbeitsplatz frei wählen und unkompliziert reisen, das Austauschprogramm Erasmus hat vielen eine unvergessliche Zeit im europäischen Ausland geschenkt. Rund 70 Prozent der jungen Deutschen bewerten die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU positiv.
Sie sind in einer multikulturellen Gesellschaft aufgewachsen, auch, wenn sich Deutschland mit dieser Realität schwerer zu tun scheint als etwa Länder wie Großbritannien. Rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland. 5,4 Millionen sind hier geboren. Sie studieren auf Lehramt, pflegen die Alten oder dienen in der Bundeswehr.
Ich, das Smartphone
In den letzten 20 Jahren haben sich schier unzählige Subkulturen - oder Neudeutsch "Tribes" - innerhalb der Jugend entwickelt. Es gibt Geeks, Hipster, Emos, Skater, Twinks, Manga-Mädchen, und auch die Punks und Ökos aus den 1980er Jahren haben überlebt.
Doch so fragmentiert diese Generation auch ist, eine Sache hat sie gemeinsam: die totale Vernetzung und Kommunikation in Echtzeit. Das Smartphone ist zur Verlängerung des eigenen Körpers geworden. Über WhatsApp, Snapchat und andere Messenger-Diensten sind Freunde ständig in Gesprächsbereitschaft. Über 80 Prozent der 14- bis 17-Jährigen loggen sich mindestens ein Mal täglich in ein soziales Netzwerk ein.
86 Prozent der Mädchen und 91 Prozent der Jungen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren haben inzwischen Zugang zum Internet. Noch mehr von ihnen besitzen ein eigenes Handy. Das ständige Hängen am kaltblauen Display wirkt sich auch auf das Jugend-Thema schlechthin aus: die Liebe. Auf Dating-Apps wie Tinder oder Grindr verabreden sich junge Frauen und Männer zu Blind Dates - und chatten, wenn das Treffen erfolgreich war, auf WhatsApp direkt weiter. Ob sich unter den zahlreichen potenziellen Verabredungen tatsächlich die große Liebe befindet, ist vielleicht genauso ungewiss wie zu analogen Zeiten. Doch auch in der Liebe gibt sich die Jugend pragmatisch. "Ich würde meinen Eltern auch lieber erzählen, dass wir uns im Supermarkt kennengelernt haben", heißt es in einem Flirt-Profil. Die Realität sieht heute eben häufig weniger romantisch aus.
Die junge Generation nutzt die sozialen Medien auch, um sich zu informieren. In den letzten Monaten besonders intensiv zum Ersten Weltkrieg und den Lehren, die wir für heute daraus ziehen können. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergab Anfang des Jahres, dass es unter 14- bis 29-jährigen Deutschen ein überdurchschnittlich großes Interesse an diesem Thema gibt. Sie wollen erfahren, wie aus einer kriegslüsternen Nation, die ihre Jugend in zwei Weltkriege schickte, eine freie multikulturelle Gesellschaft in einem vereinten Europa wurde. Und sie wollen diese positive Wende der Geschichte fortschreiben.