Tocotronic
20. Februar 2013Natürlich empfindet man sich mit über 40 durchaus schon etwas gereift. Doch einige Kritiker werfen den Anfangsvierzigern von Tocotronic anlässlich des neuen Albums vor, den Biss früherer Tage verloren zu haben, als sie mit Parolen wie beispielsweise "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" deutlichere politische Aussagen machten. Aber Texter und Songschreiber Dirk von Lowtzow glaubt, heutzutage politischer, schärfer und präziser als in seinen Zwanzigern zu sein. Das äußere sich eben manchmal nur anders als früher. "Deswegen", konstatiert er, "würde ich sagen: altersmilde ist etwas, was ich an mir nicht so feststelle."
Tocotronic waren seit Anbeginn ihrer Karriere dafür bekannt, sich immer wieder neu zu erfinden. Natürlich gilt das auch für das neue Album "Wie wir leben wollen". Nach Schrammel-Punk einerseits sowie auskomponierten Endlos-Elegien oder auch schnörkellosem Rock andererseits, gab es für die neue CD eine neue, selbstgesetzte Vorgabe. Die Aufnahmen sollten ganz wie zu Beginn der Ära der Konzeptalben produziert werden: Ganz analog auf Tonband. Mit nur vier Tonspuren statt – wie heute durchaus üblich – digital mit 48 oder mehr. Von Lowtzow erklärt: "Wir waren sehr scharf darauf, eine bestimmte Art von Psycheledic, spleenig verspult-verspieltem Pop zu machen", und so hätten sie "das Album also im Prinzip so aufgenommen wie die Beatles oder die Beach Boys oder die Zombies."
Aus Neu macht Alt
Auch wenn von Lowtzow musikalisch Neues verspricht, kommen Tocotronic auf "Wie wir leben wollen" im Prinzip wie gewohnt daher: Musikalisch überwiegend sehr melancholisch, zumeist mit vordergründig schwer zugänglichen Prosa-Texten. Überraschend vielleicht die Anleihen aus der Countrymusik und die teilweise ungewöhnlichen Bläserarrangements. Doch bleiben Tocotronic insgesamt eben typisch "Hamburger Schule": Alternative Gitarrenmusik mit intellektuellen Texten. Vielleicht ist auch gerade durch die Selbstbeschränkung eine Weiterentwicklung schwierig. Aber die Band war fasziniert von der Herausforderung. Denn mit der Vier-Spur-Technik zu arbeiten, führe dazu, "dass man sich sehr genau überlegen muss, was man wie macht. Man muss sich im Vorfeld schon eine Soundarchitektur ausdenken, weil man hinterher nicht mehr besonders viel verändernkann ", schwärmt von Lowtzow.
Von "Kritikers Liebling" zur Massenkompatibilität
Auch mit "Wie wir leben wollen" kann das Quartett das Rätsel um seinen jüngsten Erfolg nicht lösen. Lange Zeit waren Tocotronic ausschließlich Kritikers Lieblinge, ohne dass sich das nachhaltig in den Hitparaden niedergeschlagen hätte. Seit dem letzten Album "Schall & Wahn" reagierte aber auch die Masse und bescherte der Band den ersten Nummer-Eins-Hit. Dafür wenden sich nun vermehrt die wohlmeinenden Kritiker früher Tage von Tocotronic ab, wollen gerade die ehemals so hochgelobten Texte von Lowtow's nicht mehr verstehen. Offenbar wieder einmal ein Fall von "Kunst darf nicht kommerziell erfolgreich sein".
Aber gerade die neue Ambivalenz der Feuilletonisten gegenüber der Textdichtung von Tocotronic stößt bei Hauptsongschreiber Dirk von Lowtzow auf Unverständnis. Der Wortkünstler hebt ausdrücklich die neue Qualität seiner Texte auf "Wie wir leben wollen" hervor. Diese seien nämlich nicht nur mit viel Liebe geschrieben, sondern vor allem mit viel Humor. Das alles sei "schon sehr fleißige Arbeit am Jux", und er fügt hinzu: "Wenn es das in der Musik nicht gibt, dann wird es schnell kitschig. Wenn es zum Beispiel nur melancholisch oder nur traurig oder nur desperat ist."
Der Missverstandene
Anlässlich eines Marketinggags, bei dem Tocotronic 99 Thesen zum Thema "Wie wir leben wollen" veröffentlichten, warf ihnen die Kritik infame Selbstüberschätzung vor, weil damit bewusst auf Luthers 95 Thesen Bezug genommen werde. Dabei wird von Lowtzows Humor dann tatsächlich missverstanden, denn bei Punkten wie "High", "Als nistende Viren" oder "Als Zeichentrickgestalten" wird durchaus klar, dass die Tocotronic-Thesen ganz und gar nicht ernst gemeint sind. Der Vielgescholtene kontert solche Angriffe dann mit dem Verweis, Humor habe es in Deutschland immer schwer, "vor allem, wenn er nicht mit der Brechstange kommt."