16.11.2010: Schlaflos in Mekka
16. November 2010Jetzt trage auch ich echte Hadsch-Kleidung! Und bin schon gespannt auf die Reaktionen aus Deutschland, wenn die Leute mein Foto sehen. Bestimmt werden einige meiner Freunde schmunzeln, vielleicht auch mancher Tagebuch-Leser. Das ist okay! Nach meiner Meinung sollte der Islam auch für Humor und Lebensfreude stehen.
Humor und Lebensfreude erlebe ich hier in Mekka jedenfalls täglich – auch inmitten der dicht gedrängten Menschenmassen. Zum Beispiel bei einer Busfahrt mit Pilgern aus Österreich, Italien, Brasilien und China. Unsere gemeinsame Sprache ist Englisch – das erinnert mich an die Zeit, als ich mit Studenten aus aller Welt bei einer arabisch- katholischen Familie in Damaskus lebte. Nur dass hier alle Muslime sind und die Atmosphäre dem Anlass entsprechend spirituell. Die Pilger um mich herum rufen Gott an. Und sie beten im Bus, auch in den Kurven. Aber zwischendurch machen wir Witze.
Heute ist Opferfest – der Tag, an dem die Muslime des Propheten Ibrahim (Abraham) gedenken, den auch Christen und Juden verehren. Nach islamischer Überlieferung war Ibrahim bereit, seinen Sohn Ismail für Gott zu opfern – der lehnte dies aber ab, und so wurde stattdessen ein Widder geopfert. Daraus entstand ein Ritual: Für alle gläubigen Muslime, die es sich leisten können, ist es Pflicht, zur Feier des Festes ein Schlachttier zu opfern und dessen Fleisch auch an die Hungrigen und Armen zu verteilen. Das geschieht hier in Mekka im ganz großen Maßstab.
Gebete in Shopping Malls
Möchte zwischendurch noch einen kurzen Eindruck von der Al-Haram-Moschee und der Kaaba nachliefern: Daneben steht mittlerweile die angeblich höchste Uhr der Welt – mehr als 600 Meter hoch. Gigantisch - so etwas habe ich wirklich noch nie gesehen! Interessant aber auch, dass es neben der Kaaba auch ein Starbucks Cafe und mehrere Shopping Malls gibt. Wenn die Moschee voll ist, beten die Pilger sogar in den Malls.
In einer dieser Einkaufsmeilen treffe ich Layali und Farid – ein Pärchen aus Wien. Layali ist schon zum zweiten Mal beim Hadsch dabei. Sie ist begeistert und erklärt mir mitten in der glitzernden Geschäftswelt: „Die Dinge und Materialien haben hier plötzlich keinerlei Relevanz mehr. Man spürt nur die Nähe zu Gott und wie klein man selbst demgegenüber ist.“ Weitere Interviews in Nähe der Kaaba lehnt sie freundlich ab: „Ich möchte mich ganz auf Gott konzentrieren.“ Das kann ich gut verstehen und spreche stattdessen mit Farid, der in Mekka seine spirituelle Heimat gefunden hat, zugleich aber betont: "Ich bin ein waschechter Österreicher – Österreich ist meine Heimat.“ Kurz darauf verliere ich das freundliche Pärchen aus Österreich in den Massen …
Schlaflos in Mekka
Pilgern ist alles andere als ein Sonntagsspaziergang! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht – nach den Gebeten der Pilger am Berg der Vergebung und der nächtlichen Reise nach Muzdalifah, wo die Gläubigen Steine für die symbolische Steinigung des Teufels gesammelt haben. Da musste ich gleich an die Frage von DW-User Thomas Pudelko denken, der fragt: „Soweit mir bekannt, wurde mit deutscher Hilfe das (technische) Arrangement in Mekka neu strukturiert und eine sehr effiziente Ablaufsteuerung installiert … Beeinträchtigt dies die religiöse Situation vor Ort?“
Nein, überhaupt nicht, würde ich sagen! Die spirituelle Atmosphäre hier ist sehr intensiv und beeindruckend. Und viele hier sagen, dass die Sicherheit auch dank der Hilfe deutscher Ingenieure deutlich besser geworden sei. In Muzdalifah, der einzigen Hadsch-Station, wo die Pilger im Freien übernachten müssen, habe ich „deutsches“ Organisationstalent aber schmerzlich vermisst: Drei Stunden Anreise für ein paar Kilometer! Und vor Ort dann das totale Chaos mit hunderttausenden wild durcheinander laufenden Menschen auf den Straßen! Vor meinen Augen wurde sogar mittendrin ein alter Mann von einem Bus angefahren. Ich hoffe, dass er überlebt hat.
Antworten an meine User
„Wie findest Du eigentlich den richtigen Weg in diesen Menschenmassen?“ (Für Red. DW-Englisch: „Ho do you find your way through the cloud?“) fragt mich DW-Englisch-Userin Sandhya Moirangthem. Gute Frage, liebe Sandhya!! Ich war mir vorher selbst nicht sicher, habe hier aber schnell gelernt: Meistens reicht es, den Massen zu folgen …
Auf der Facebook-Seite von DW-Arabisch hat mich Yuri Boston gebeten zu schildern, wie Leben und Alltag in Mekka jenseits der Hadsch aussehen. Lieber Yuri, bis auf die Gegend um die Kaaba-Moschee stehen hier viele Gegenden und Hadsch-Stationen das ganze Jahr über leer - weit und breit kein Mensch, nur Wüste. Nach meiner Rückkehr werde ich noch ausführlicher über den Alltag in Saudi-Arabien berichten.
Wie die saudischen Behörden sicherstellen, dass wirklich nur Muslime zur Hadsch kommen - möchte DW-User „derks145“ wissen. Dazu muss man wissen, dass jeder Pilger ein spezielles Hadsch-Visum benötigt. In vielen Fällen ist die muslimische Herkunft am Namen erkennbar. In Zweifelsfällen lassen sich die saudischen Behörden aber auch Bestätigungen vorlegen – beispielsweise von Moscheegemeinden.
Und schließlich noch eine Frage von Userin Judith Puppe aus Deutschland: „Welche Kosten kommen auf einen Pilger zu? Ich habe mich hier lange umgehört und einen durchschnittlichen Mittelwert ermittelt: etwa 3000 Euro – natürlich völlig ohne Gewähr.
Nach der durchwachten Nacht geht es jetzt aber weiter mit Opferfest und symbolischer Steinigung des Teufels – außerdem lassen sich die Pilger ihre Haare schneiden. Mehr dazu in meinen nächsten Einträgen. Für heute erst einmal nur soviel: Herzliche Grüße zum Opferfest an alle meine Leser - Muslime wie Nicht-Muslime!
Autor: Ali Almakhlafi, Mekka
Redaktion: Rainer Sollich