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16. Berliner Poesiefestival

Sabine Peschel20. Juni 2015

Poesie kann man nicht essen, aber sie macht glücklich, behaupten die Veranstalter des 16. Berliner Poesiefestivals. Erste Eindrücke bestätigen das – sei es durch nachdenkliche Verse, schnellen Rap oder lyrischen Gesang.

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16. Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste
Thomas Wohlfahrt (links) und die Dichter und Dichterinnen der "Nacht der Poesie"Bild: imago/M. Schmidt

"Ist es absurd, Poesie und Kapital zusammenzuschalten?" Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin und Direktor des Poesiefestivals, leitet das Thema des diesjährigen Festivals bei der Eröffnung am 19. Juni vom Lateinischen ab. "Kapital" habe schließlich was mit "Kopf" zu tun, mit dem Schatz und dem Reichtum von Sprache. "Das Kapital der Poesie muss zirkulieren." Gelegenheit dazu bietet das Poesiefestival, das im Berliner Kulturkalender seit 16 Jahren zu den großen Ereignissen gehört, bei über fünfzig Veranstaltungen. Den Auftakt bildete wie in den vergangenen Jahren ein Konzert aus internationalen Stimmen und Sprachen unter dem Titel "Weltklang – Nacht der Poesie".

Der Reichtum der Wörter

142 Künstlerinnen und Künstler aus 32 Ländern der Welt präsentieren noch bis zum 27. Juni ihr poetisches Kapital, und keinesfalls geht es dabei immer nur um den Sinn und Zweck von Sprache: Zur großen programmlichen Bandbreite des Festivals gehört auch die schon auf das lutherische Reformationsjubiläum 2017 vorausweisende Ausstellung "Aufs Maul geschaut – Mit Luther in die Welt der Wörter". Am Beispiel von Aussprüchen Luthers zeigt sie, wie Sprache künstlerisch mit den Mitteln digitaler Medien oder ganz traditionell auf Papier sichtbar gemacht werden kann. Es wird einen Lyrikmarkt geben, an dem Verlage teilnehmen, in denen deutschsprachige Lyrik erscheint, und schließlich widmet sich ein Colloquium den "Zukünften der Dichtung".

16. Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste
Luthersprüche stehen auf der Rückseite der Blätter dieses massiven Kombi-AbreißblocksBild: imago/M. Schmidt

Mutig erscheint der Versuch, in einem theatralen Vortrag erstmals nebeneinander Auszüge aus den Heiligen Schriften von Juden, Christen und Muslimen zu rezitieren. Nicht um ihre Inhalte zu vergleichen, sondern um sie rein vom ästhetischen Potenzial her zu betrachten. Unmittelbar politisch engagiert sich das Festival, indem es Dichtern aus 54 Ländern des afrikanischen Kontinents eine öffentliche Plattform für ihr Kettengedicht bietet: Der "Eilbrief an Europa" zur Flüchtlingsthematik ist Ausdruck eines neuen, starken Selbstverständnisses. Und es wird einen kleinen China-Schwerpunkt geben, darauf weisen die Veranstalter besonders hin: Denn seit den 1990er Jahren dürften nicht mehr so viele chinesische Dichter und Dichterinnen gleichzeitig im Rahmen eines Festivalprogramms präsentiert worden sein.

Die Nacht der Poesie

Einer dieser acht Lyriker, Zang Di, sprach schon am Abend der Eröffnung an, dass dieser China-Akzent auch eine politische Dimension hat: "Gedichte sind Holzblöcke in der Politik des Lebens." Was er damit meint, wird er sicherlich bei der Diskussion zu "Poesie und Subversion in China" (am 25. Juni) erklären können. Seine Gedichte wurden wie auch fast alle anderen im Laufe des Eröffnungsabends vorgetragenen Werke für das Poesiefestival zum ersten Mal ins Deutsche übertragen und in einem Booklet veröffentlicht.

16. Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste
Der chinesische Lyriker Zang DiBild: imago/M. Schmidt

Auf der Bühne selbst wurde nur im Originalton performt. Aus gutem Grund: Die einfache "Wasserglaslesung", konstatierte Moderator Heinrich Detering, war an diesem Abend, an dem neun Künstler aus vier Kontinenten ihre polyphonen Texte präsentierten, kaum vertreten. Der französische Avantgarde-Lyriker Christian Prigent, der sein Publikum schon seit den 1960er Jahren herausfordert, grunzte, stöhnte und röhrte eine "Litanei" zum Thema Orgasmus.

Die 1979 geborene Hip-Hopperin Femcee L-ness aus Kenia rappte energiegeladen auf Sheng, einem Sprachgemisch, das in den Slums von Nairobi entstand. Der 32-jährige Ungar Mario Z. Nemes schwelgte in Monstern, Mythen und Mutationen, indem er Motive und Einflüsse aus trivialen Genres kombinierte. Seine Prosagedichte mit absurden Titeln wie "Die Ergreifung und Verkleinerung des berüchtigten Babyface" sind nicht nur spaßig, sondern in ihrer provokanten Obszönität auch als Widerstand gegen die von Victor Orbán geforderte "ungarische Nationalstärkung" zu verstehen.

16. Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste
Lydia Owano Akwabi alias Femcee L-ness – die LöwinBild: imago/M. Schmidt

Stilbildende Dichtung

Der eigentliche Star des Abends aber war ein alter Herr in Anzug und Schlips, der langsam und mit klarer Stimme seine Miniaturen vortrug. Die Lyrik des fast 82-jährige Reiner Kunze gehört seit langem zur Schullektüre. Die klaren Aussagen und Anweisungen seiner Poesie verdichteten sich im Vortrag dieses Abends zu Aphorismen mit melancholischem Grundton. "Wie viele Bäume wurden gefällt, wie viele Wurzeln gerodet in uns?" Verse wie dieser berührten das Publikum.

16. Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste
Reiner Kunze, Meister der sprachlichen ReduktionBild: imago/M. Schmidt

"Poetry doesn't ban wheely suitcases" – Lyrik kann nichts ausrichten gegen Rollkoffer, und auch ansonsten könne sie vieles nicht: "Sie warnt nicht vor Gaslecks" und "hält keinen Extremisten davon ab, nach Syrien zu reisen". Reich mache sie auch niemanden, aber: "Poetry is happiness". Zu diesem Schluss waren Thomas Wohlfahrt und Bas Kwakman, Direktor von Poetry International in Rotterdam, bei ihrem gemeinsamen Rap zur Eröffnung des Lyrikfestivals gekommen. Der Abend bestätigte das, spätestens als mit dem Sänger und Songschreiber Jochen Distelmeyer am Ende ein Dichter auftrat, der sein Wortmaterial zu Lyrics formt. Damit hatte er einst mit seiner früheren Band "Blumfeld" die Popmusik in Deutschland revolutioniert.