Wirksam gegen Willkür
Oktober 2020: Während einer Razzia in der osttürkischen Stadt Van nehmen Polizisten einige Mitarbeitende der kurdischen Nachrichtenagenturen Mesopotamia News und JinNews fest. Unter ihnen die Journalistinnen Nazan Sala und Şehriban Abi, die über die Folter kurdischer Dorfbewohner in der Kleinstadt Catak berichtet hatten. In der Haft wurden ihre Telefone, Laptops und Kameras von der Polizei beschlagnahmt. Ihrem Anwalt zufolge wurden sie in Männer-Gefängnissen festgehalten, um sie zu demütigen. In den kalten Wintermonaten baten die Frauen vergeblich um warme Kleidung. Zudem sei ihnen vorübergehend Essen und Wasser verwehrt worden, stundenlang hätten sie im Stehen ausharren müssen.
Die Vorwürfe der Justiz: Mitgliedschaft in einer "terroristischen Organisation" und "Treffen mit unbekannten Verdächtigen". Diese häufig angeführten Anschuldigungen sind darauf ausgelegt, Journalistinnen in ermüdende juristische Verfahren zu verwickeln und sie von ihrer Arbeit fernzuhalten. Die meisten können sich einen Rechtsstreit finanziell nicht leisten. Ihre Anwältinnen und Anwälte werden über Hilfsorganisationen vermittelt und arbeiten in der Regel ehrenamtlich oder verfügen selbst nur über geringe Ressourcen. Die Folge: Viele unabhängige und oppositionelle Medien vermeiden es, über die Arbeit der Regierung zu berichten. In den vergangenen drei Jahren wurde die Pressefreiheit in der Türkei deutlich eingeschränkt.
"Juristische Verfolgung, um Medien zum Schweigen zu bringen"
Im internationalen Vergleich ist die Türkei zusammen mit Iran und Saudi- Arabien trauriger Spitzenreiter mit Blick auf die Zahl inhaftierter Journalisten und Journalistinnen. Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan wenden staatliche Institutionen unterschiedliche Methoden an, um Medienschaffende aufgrund ihrer Berichterstattung zu verfolgen. Nazan Sala und Şehriban Abi sind nur zwei Beispiele. Allein im Januar 2021 dokumentierte The Coalition For Women In Journalism 16 Verfahren gegen Journalistinnen.
In China wurde die 37-jährige Bürgerjournalistin Zhang Zhen im Juni 2020 nach einem Live-Streaming in Wuhan verhaftet. Sie hatte den Umgang chinesischer Behörden mit dem Ausbruch des Coronavirus kritisiert. Als sie während ihrer Inhaftierung gezwungen wurde, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu akzeptieren, trat Zhang in einen Hungerstreik. Die Journalistin wurde wegen Verbreitung falscher Informationen im Internet zu fünf Jahren Haft verurteilt.
In Belarus erhielten die Journalistinnen Katsiaryna Andreyeva und Darya Chultsova im Februar 2021 eine zweijährige Freiheitsstrafe, weil sie im vergangenen Herbst einen Protest in Minsk live gestreamt hatten. Beide wurden der Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigt.
Die juristische Verfolgung hat sich in vielen vermeintlich demokratischen Staaten zu einem der wirksamsten Mittel entwickelt, Medien zum Schweigen zu bringen. Razzien, willkürliche Inhaftierungen, Prozesse gegen Journalistinnen und Journalisten unter dem Vorwurf des Terrorismus, meist ohne jegliche Beweise, gehören vielerorts zum traurigen Alltag.
"Demokratische Institutionen gegen demokratische Werte"
Mit der Coalition for Women In Journalism gehen wir weltweit den Übergriffen gegen Journalistinnen nach und dokumentieren die Vorfälle. Im Jahr 2019 haben wir 291 Verletzungen der Pressefreiheit gegen Journalistinnen registriert. Im vergangenen Jahr stellte unsere Organisation einen exponentiellen Anstieg auf 716 Fälle fest.
Zu diesen Verstößen gehörten physische Angriffe und Behinderungen, sexistische Angriffe, Gewaltandrohungen und Einschüchterungen sowie drei Morde.
Journalistinnen werden vielerorts auch von Behörden ins Visier genommen: Unsere weltweite Bilanz 2020 belegt 100 Festnahmen, 97 Fälle rechtlicher Schikane, 52 Verhaftungen und vier Berichte über Folter während der Inhaftierung. Vier Journalistinnen wurde die Akkreditierung entzogen, zwei wurden in den ersten zwei Monaten dieses Jahres entführt, zwei weitere Journalistinnen werden vermisst.
Die Mehrheit dieser Angriffe geht staatlichen Institutionen aus. Die Zahlen erzählen eine Geschichte über die Risiken, denen unsere Demokratien heute ausgesetzt sind. Autoritäre Staaten setzen demokratische Institutionen gegen demokratische Werte ein. Am meisten gefährdet sind Journalistinnen und Journalisten.
Kiran Nazish berichtete aus Auslandskorrespondentin unter anderem aus Afghanistan, Irak, Mexiko, Türkei und Pakistan und erlebte die Schwierigkeiten ihrer Kolleginnen in vielen Teilen der Welt. Sie gründete die globale Mentoren- und Advocacy-Organisation The Coalition For Women In Journalism und ist als Stanley Knowles Distinguished Professor an der Brandon University in Kanada tätig.
Twitter: @kirannazish