Großbritannien: Hassverbrechen nehmen zu
Es war kurz vor sechs Uhr abends am 25. September. Der 58-jährige Nasser Kurdy war auf dem Weg zum Altrincham Islamic Center in Cheshire in Nordwesten von England, als er von hinten mit einem Messer in den Hals gestochen wurde. Die Polizei betrachtet den Angriff auf den muslimischen Arzt, der nach der Terrorattacke von Manchester als freiwilliger Helfer Anschlagspfer medizinisch versorgt hatte, als Hassverbrechen. Die Attacke auf Kurdy ist Teil eines beunruhigenden Trends: Hassverbrechen nehmen zu im Vereinigten Königreich.
Als Hassverbrechen (englisch: "hate crime") wird in Großbritannien jede Art von Straftat bezeichnet, die aus Sicht des Opfers "durch Animosität oder Vorurteile" gegen dessen Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft, Religion oder Behinderung motiviert war. Offizielle Statistiken zeigen, dass die Anzahl der Hassverbrechen in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Laut Innenministerium verzeichnete die Polizei 62.528 Straftaten im Zeitraum vom 1. April 2015 bis zum 31. März 2016, ein Anstieg von 19 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2014/2015.
Azad Ali, Funktionär bei MEND (Muslim Engagement and Development, eine NGO, die sich gegen Islamophobie richtet), sagt, dass auch seine Organisation einen Anstieg der Angriffe auf Muslime bemerkt hat. "Unser Team, das Opfern von islamophoben Angriffen hilft, verzeichnete bei den Berichten der Opfer einen Anstieg von fast 400 Prozent - das reicht von Beschimpfungen und Sachbeschädigungen bis zu körperlichen Attacken. Unsere Daten zeigen, dass vor allem muslimische Frauen Opfer solcher Hassverbrechen werden."
Mehr Hassverbrechen seit Brexit-Abstimmung
Ein beispielloser Anstieg der Verbrechen gegen ethnische Minderheiten und Ausländer wurde kurz vor und in der Zeit nach dem Referendum zum Ausstieg aus der EU im letzten Juni verzeichnet. Ein Komitee der Vereinten Nationen zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung sieht vor allem die „spalterische, migrantenfeindliche und xenophobe Rhetorik" der Pro-Brexit-Kampagne sowie die negativen Darstellung von ethnischen Minderheiten, Immigranten, Asylsuchenden und Geflüchteten in britischen Medien als verantwortlich an.
Eine parteiübergreifende Parlamentariergruppe warf der Regierung in einem Bericht ebenfalls vor, während der Brexit-Debatte "giftige" Gefühle gegen Migranten angestachelt zu haben. 62 Prozent aller Migranten in der zweiten Generation - also in England geborene Kinder von Einwanderern - hätten das Gefühl, dass Großbritannien seit der Brexit-Abstimmung intoleranter geworden sei, so der Bericht.
Ben Ward von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, sorgt sich: "Es besteht das Risiko, dass der Brexit - wenn er nicht richtig durchgeführt wird - dazu führen kann, dass intolerante, negative Äußerung über Ausländern von manchen als Einladung gesehen werden, handgreiflich zu werden."
Neue Werkzeuge gegen Hassverbrechen
Die britischen Behörden haben das Problem erkannt und versichern, dagegen vorzugehen. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte der Deutschen Welle, dass man 900.000 Pfund (eine Million Euro) für lokale Projekte gegen Hassverbrechen zur Verfügung gestellt habe, und dass mehr als drei Millionen Pfund in den Schutz von Gotteshäusern und anderen religiösen Institutionen investiert würden.
Eine neue behördenübergreifende Arbeitsgruppe, die sich speziell mit islamophober Gewalt beschäftigen soll, wird zur Zeit aufgebaut. Die Polizei erhebt seit kurzem bei religiös motivierten Verbrechen, gegen welche Religion sich die Tat richtete. Die Hoffnung: zu identifizieren, wo besonders viel Ressourcen für Schutz und Prävention benötigt werden. "Alle Formen von Hassverbrechen sind inakzeptabel, und unser Aktionsplan verbessert die Reaktionsfähigkeit von Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Wir wollen sicherzustellen, dass Opfer sich trauen, solche Fälle anzuzeigen", so ein Sprecher der Gruppe.
Sophie Linden, Vize-Bürgermeisterin für Polizeiarbeit und Verbrechen in London, sagte der DW: "Der Bürgermeister und ich verfolgen klar einen Null-Toleranz-Kurs bei Hassverbrechen aller Art."
Drohungen online ernstnehmen
Gerade gegen Beleidigungen und Bedrohungen online wollen die Behörden vermehrt vorgehen: Neue Leitlinien für Staatsanwälte in England und Wales geben vor, dass Online-Hassverbrechen genauso ernst genommen werden sollen wie solche offline.
Politiker und Polizei nehmen Hassverbrechen zunehmend ernst, doch es geht nicht nur darum, dass einzelne Hassverbrechen strafrechtlich mit voller Härte verfolgt werden; sie müssen im gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet werden, um Trends entgegenzuwirken, die Intoleranz und Hass hervorbringen.
Ein Sprecher für die Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte sagte: "Rassismus und Hass haben im modernen Großbritannien keinen Platz. Wir brauchen härtere Strafen, um Täter abzuschrecken, müssen besser verstehen, was Hassverbrechen auslöst und wie wir sie verhindern können, und wir brauchen sichere Beweise, dass diese Strategien funktionieren."